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wie gesagt, durchaus nicht um eine verletzende Polemik, sondern lediglich um die Wahrheit zu thun. Bei Beginn des Balkanüberganges erzählte ein kritikloser Reporter, daß mau Seitens der russischen Armeeverwaltung alles wohl vorbereitet, nur keine — Schlitten besorgt habe. Dieser Unsinn wurde ohne Weiteres, mit drastischen Anmerkungen begleitet, von zwei bedeutenden Blättern nachgedruckt, während andere, wie die „Magdeburger Zeitung", sie mit einem ungläubigen relatA rstsro einfach notirten. Bei einiger Ueberlegung mußte es auch jedem Nichtmilitär klar sein, daß eine solche Nachricht nur eine bösartige Ente, mindestens eine arge Uebertreibung sein konnte. Es ist ja denkbar, daß durch ein Versehen irgend eines der vier Korps, welche im Beginn des Januar gegeu den Balkan vordrangen, nicht rechtzeitig mit Schlitten versehen worden wäre. Wenn man aber die Sache las, so wie sie theilweise den Lesern dargestellt wurde, so war die Armeeverwaltung geradezu als eine kopflose Horde hingestellt. Als nun später der Balkauiibergaug in der That mit Ueberwindung großer Schwierigkeiten in einer W.eise ausgeführt wurde, die von der aller- sorgfältigsten Vorbereitung von Seiten der Russen Zeugniß gab, da waren jene Zeitungen wohl ehrlich genug, diese Thatsache zu melden, von einer Berichtigung ihrer früheren falschen Angaben aber war Nichts zu lesen, während alle Umstände zu Gunsten der Türken sorglichst hervorgehoben wurden, und die Thatsache, daß neben eiuer völligen Entmuthigung der Türken auch eine ganz lüderliche Handhabung des Sicherheitsdienstes Platz gegriffen hatte, nur für den militärischen Leser zwischen den Zeilen zu lesen war. Dergleichen Beispiele könnten sofort vermehrt werden.
Sehen wir uns nun einmal den Revers der Medaille an, indem wir die Schwierigkeiten betrachten, welche sich im russischen Lande und Volke einer geordneten Verwaltung entgegenstellen. Wir werden dabei unsere Kenntnisse in Bezug auf unseren besten Nachbar — unter Blinden ist der Einäugige König — vermehren und gerechter urtheilen. Dem Verfasser stehen, außer seiner Kenntniß der Sprache und außer seinem langen Verkehr mit Russen in Rußland, besonders die Angaben zur Seite, welche Leroy-Beaulieu in einem großen Werke über Rußland veröffentlicht — seit 2 Jahren erscheinen Theile davon in der Rsvuo ckss äsux irwvckss — und welche auf langem und gewissenhaftem Studium an Ort und Stelle beruhen.
Geographie, Geschichte, die exzentrische Lage seiner Hauptstadt, seine enorme Größe bei verhältnißmäßig dünner Bevölkerung, scheinen Rußland gebieterisch auf Dezentralisation hinzuweisen. Dennoch finden wir kein Land, in welchem die Zentralisation energischer angestrebt und, soweit es seine Kräfte gestatten, durchgeführt würde. Dies Bestreben tritt hervor, seit Czar Iwan, genannt der Schreckliche, obwohl er in vieler Beziehung ein Wohlthäter seines Landes