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Die Pest in Rußland.
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Die Mt in Kuszland.

Eine große Gefahr droht von Osten her. Fast ist nicht mehr zu bezweifeln, daß dort im Wolgagebiet eine Krankheit wieder aufgetreten ist, die man seit langen Jahren für nicht mehr existirend ansah, und die das nördliche Europa im gegenwärtigen Säkulum nicht mehr heimgesucht hat, währeud sie vordem hier wie im Morgenlande Verheerungen der furchtbarsten Art angerichtet hatte. Wenn nicht Alles täuscht, so ist in der Stanitza, d. h. dem Kosakendorfe, Wetljanka im Gouvernement Astrachan*) die orientalische Pest oder wenigstens eine ihr nahe verwandte, namentlich wie sie rasch und auf grauenhafte Weise tödtende Krankheit ausgebrochen. Man erzählt, daß ein aus dem türkischen Armenien heimge­kehrter Kosak seiner Geliebten einen Shawl mitgebracht habe, und daß das Mädchen, nachdem sie das Geschenk ein paar Tage getragen, unter beunruhigenden Symp­tomen erkrankt und nach wenigen Stunden gestorben sei. Kurz nachher, so heißt es weiter, folgten ihr, von demselben unheimlichen Uebel ergriffen, alle Hausgenossen nnd später eine Anzahl der Nachbarn in's Grab, und die Seuche trat, vermuthlich von Flüchtlingen aus Wetljanka verschleppt, auch an anderen Orten in der Nähe der Wolga auf.

Dies geschah in den letzten Tagen des November und in der ersten Woche des Dezember. Seitdem hat die russische Regierung Maßregeln gegen das Uebel ergriffen: sie hat die angesteckten Dörfer absperren lassen und Aerzte zur Feststellung des Charakters der Epidemie und zur Behandlung der an ihr Er­krankten abgeschickt, und die neuesten Nachrichten lauten günstiger. Mit dem Eintritt strenger Kälte in Astrachan stand am 8. Januar die Quecksilbersäule des Thermometers 12 Grad unter Mull hat die Zahl der Erkrankungen ab­genommen. Aber noch immer scheint die Gefahr groß; denn man weiß aus Erfahrung, daß Thauwetter der Seuche ihren bösartigen Charakter wiedergeben kann, und infolge dessen herrscht in den russischen Städten, selbst im Norden

*) Wetljanka liegt im Kreise Jenotajewsk, 149 Werst von der Stadt Astrachan ent­fernt, 10 Werst vom Dorfe Prischib und doppelt soweit von dem Dorfe Nikolskoje, auf dem rechten Ufer der Wolga, Das letztere erhebt sich ziemlich hoch über den gewöhnlichen Stand des Flusses und ist eben und uubcwaldct. Der Boden um die Stanitza, die etwa 1700 Einwohner und ungefähr 200 Gehöfte mit nicht besonders saubern und geräumigen Holzhäusern hat, ist lehmig, die Vegetation dürftig. Die Einwohner beschäftigen sich aus­schließlich mit Fischfang. Nach dem Bericht älterer Leute im Orte ist Wetljanka in Cholera- zeitcn von der Krankheit fast immer schwerer betroffen worden als die übrigen Dörfer der Gegend; bei Masern- und Scharlachsieber-Epidemieen hatte der Ort stets einen größeren Prozentsatz von Erkrankungen auszuweisen als diese, in den Jahren 18S9 und 1860 war die Syphilis hier stark verbreitet und entwickelt, und im Jahre 1364 gab es viele Fieber­kranke.