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harren, dieser das freudige Weiterstreben zuweist, so ist schwer zu verstehen, wie eine so völlige Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse bei einem so geist- und kenntnißreichen Manne hat entstehen können. Bei gerechter Wägung aller maßgebenden Momente wird man sagen dürfen, daß durch die liberalen Parteien zwei sozialpolitische Strömungen gehen: die Einen legen das Hauptgewicht auf die Konsolidation der modernen Wirthschaftsordnung, die, wie Scheel ja selbst an dem Beispiele der konservativen Parteien zeigt, noch den thörichtsten Anfechtungen ausgesetzt ist; die Andern halten sie für hinreichend fest und sicher gegründet, um schon an ihren weiteren Ausbau gehen zu können. Mag man nun diese oder jene Richtung, oder genauer eigentlich nur Taktik für augenblicklich angezeigter halten, so ist es jedenfalls ganz unhaltbar und unverständlich, wenn man diese Strömungen sich scheiden läßt durch die politische Parteigrenze zwischen den Fortschrittlern und Nativnalliberalen. Sie gehen vielmehr gleichmäßig durch beide Parteien; viel eher könnte man noch sagen, daß die Fortschrittler sozialpolitisch konservativer seien, als die Nationalliberalen. Wenigstens ihre maßgebenden Führer, wie Eugen Richter, sind Manchesterleute in dem minder schmeichelhaften Sinne dieses Worts, während fast alle Kathedersozialisten sich znr nationalliberalen Partei zählen. Der einzige Ruhm, auf den die Fortschrittspartei besonders pochen könnte, wäre die abenteuerliche Sozialpolitik von Max Hirsch, der freilich von den Führern der Partei in un- verholenster Weise verleugnet zu werden pflegt. Seine Feldzüge sind in ihrem tragikomischen Mißlingen — tragisch, so weit es sich um das Schicksal be- thörter Arbeiter, komisch, so weit es sich um Herrn Hirsch selbst handelt, — allerdings zu wenig verlockend, als daß selbst die Fortschrittspartei sich besonders versucht fühlen könnte, ihre politischen Kosten zu tragen. Ueber diese Verhältnisse urtheilt Herr von Scheel mit einer seltsamen Befangenheit, welche die einschlägigen Abschnitte seines trefflichen Büchleins sehr gegen die durchsichtige Klarheit- des übrigen Inhalts zurücktreten läßt. Betheiligt er sich doch auch praktisch an dem neuesten Scherz von Max Hirsch, der Gründung einer „Hnmboldt-Akademie" in Berlin, welche die Sozialdemokratie durch Ausrotten der Halbbildung vernichten und behufs dieses löblichen Werks den Arbeitern durch Vortragszyklen von je zehn bis zwölf Stunden über Geologie, Paläontologie, Philosophie, Psychologie, Erkenntnißtheorie, Aesthetik, Ethik, Rechtswissenschaft, Kunstgeschichte ic. eine „harmonische, wissenschaftliche Bildung" einflößen will. Ein hübsches Pröbchen sozialpolitischer Weisheit, aber durchaus würdig seines Urhebers, der noch immer der mächtigste Förderer alles dessen gewesen ist, was er vernichten wollte!
In demselben Verlage erschienen wie „Unsere sozialpolitischen Parteien", aber ein ganz anderes Werk eines ganz andern Mannes ist Viktor Böhmert's