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Goethe´s Gedichte in Frankreich.
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kleinlich sich anklammernder Aengstlichkeit, sondern mit dichterischer Freiheit

und Leichtigkeit und mit der schöpferischen Kraft des Genie's.

Wenige Worte, die gewechselt werden, ersetzen sofort im Anfange eine

weitläufige Exposition:

Wandrer: Gott segne dich, junge Frau, Und den säugenden Knaben An deiner Brust! Laß mich an der Fclscnwand hier In des Ulmbaums Schatten Meine Bürde werfen, Neben dir ausrnhn, Frau: Welch Gewcrb treibt dich Durch des Tages Hitze Den staubigen Pfad her? Bringst du Waaren aus der Stadt Im Land herum?

Der Wandrer lächelt, und anstatt der jungen Frau eine Antwort zu geben, die sie doch nicht begreifen würde, bittet er sie, ihm einen Brunnen zu zeigen, an dem er seinen Durst stillen könne. Sie sührt ihn einen Felsenpfad hinauf, und er sieht allmählich die Trümmer eines alten Tempels auftauchen, einen Architrcw, mit Moos bedeckt, eine verwischte Inschrift, einsame Säulen,die majestätisch trauernd herabschauen ans die zertrümmerten Schwestern zu ihren Füßen." Er zürnt der Natur, dieihres Meisterstücks Meisterstück" in dieser Weise zerstört, er vergißt ganz die Fran an seiner Seite, hört nichts von ihren Bemerkungen, ihren freundlichen Anerbietungen. Jedes von beiden verfolgt seine eigene Gedankenreihe, der Wandrer in seiner Betrachtung und seinen Klagen versunken, die junge Frau nur darauf bedacht, dem Wandrer eine Er­quickung zu bieten, seinem ersten Wunsche gemäß, dem einzigen, den sie begreift, weil er natürlich und allgemein menschlich ist. Was ist es nun, was die Ge­dankenkreise beider einander nähert, sie auf ein und denselben Puukt richtet, den Mann der Bildung, den Künstler, der über die Verstümmelung seiner ab­göttisch verehrten Kunstwerke empört ist, der die Vergangenheit in seiner Ein­bildung wiederherzustellen sucht, mit der Gegenwart, mit der Natur, mit dem Leben aussöhnt? Der Uebergang ist von ebenso großer Simplizität wie Zart­heit, ebenso sinnreich wie rührend.

Nimm den Knaben," redet die Mutter den Wandrer an,daß ich Wasser schöpfen gehe." So wird der Mann veranlaßt, sich niederzulassen, das Kind auf seine Arme zu nehmen, und so richtet er seine Blicke und Gedanken von den Ruinen, über die sie eben noch schweiften, auf die süße Last, die ihm an­vertraut ist.

Der Zauber ist gelöst: Das Interesse für die Vergangenheit weicht der