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Brnder sich kaum enthielt, auszurufen: „Moses, bist du auch da!" Seitdem bestand bei ihm eine Art Wechselwirknng zwischen dem Roman und dem Leben. Die Glieder der Familie Primrose entlehnten ihre Züge von der Familie Brion und gewannen an Deutlichkeit und Schärfe; die Gestalten der Bewohner von Sesenheim erschienen Goethe von dem poetischen Nimbus umgeben, mit welchem Goldsmith seine Figuren zu umkleiden verstanden hatte. Er gab sich in seiner augenblicklichen Freude keine Rechenschaft von diesem beständigen Austausch, dieser unmerklichen Umbildung; später aber wurde er sich sehr wohl darüber klar und zergliederte sie selbst in „Dichtung und Wahrheit". In Wetzlar ging in seinem Innern sicher eine ähnliche Verschmelzung vor. Goethe hatte eben den „Wandrer" gedichtet, eben das Bild jener jungen,^einfachnatürlichen, liebenswürdigen, gastfreundlichen, glücklichen Frau in dem bescheidenen Rahmen ihres alltäglichen Lebens gezeichnet — da begegnet er in Lotte ihrem leibhaftigen Ebenbilde. Ist es nicht natürlich, daß abermals dieses Spiel der Reflexe entstand, nnd daß er, als er in schonen Sommertagen, in stillem Glücke, „Lotten ganz im Herzen", seine Verse wieder las, sich selber täuschte und aus den Zeilen seiner Dichtung das Bildniß der Geliebten lächeln zu sehen glaubte?
Thatsächlich knüpft unsre Dichtung noch an das Elsaß und an Friderike an. Den Rahmen und das Motiv dazu erhielt Goethe in Niederbronn, auf einem Ausflug in die Vogesen. „In diesen von den Römern schon angelegten Bädern — so schreibt er in „Dichtung und Wahrheit" — umspülte mich der .Geist des Alterthums, dessen ehrwürdige Trümmer in Resten von Basreliefs und Inschriften, Säulen-Knäufen und -Schäften mir aus Bauerhöfen zwischen wirtschaftlichem Wust und Geräthe gar wuudersam entgegenleuchteten."
Die Entstehungszeit, der Koutrast zwischen der unbewußten Naivetät des Weibes und den verfeinerten Empfindungen des Wandrers, alles weist auf die Beziehungen Goethe's zu Friederike hin. Und die Gewißheit wächst noch, wenn wir die letzten Zeilen unsres Gedichtes mit der dritten Strophe des Liedes „An die Erwählte" vergleichen. An beiden Stellen gedenkt der Dichter der Hütte in der Nähe des Pappelwäldchens, die er sich zum Zufluchtsorte seines Glückes auserkoren hat.
Auch wenn Goethe nicht ausdrücklich in „Dichtung und Wahrheit" des Eiuflusses gedacht hätte, den Lessing's „Laokoon" auf ihu ausgeübt, ein aufmerksames Studium unsres Gedichtes würde hinreichen, ihn außer Zweifel zu setzen. Ju der That, alle die geistvollen nnd tiefbegründeten Vorschriften Lessing's über die Auflösung der Beschreibung in Handlung, über die sparsame Verwendung malerischer Einzelheiten, über die Aufeinanderfolge der Bilder in der Dichtung, alle finden wir sie hier beobachtet, und zwar yicht mit schülerhafter,