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Goethe´s Gedichte in Frankreich.
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ist es, wozu wir uns bisher aus allerhand Bedenklichkeiten nicht entschlossen haben, und worin uns der Franzose wieder einmal den Rang abläuft.

Mehr als einmal hat Goethe selber es ausgesprochen, daß seine Gedichte Gelegenheitsgedichte" seien in dem tieferen Sinne, daß all' sein dichterisches Schaffen von etwas in der Wirklichkeit gegebenem ausging, daß seine Poesie nur dasjenige, künstlerisch gestaltet, gesteigert und geläutert, darstellte, wozu be­stimmte äußere Aulässe, bestimmte Lebensereignisse ihn drängten. Und wenn auch natürlich ein Goethe'sches Gedicht, wie jedes echte Kunstwerk, zn genießen ist von dem, der nichts davon weiß, wann und unter welchen Umständen der Dichter es geschaffen, welche Erlebnisse er darin dargestellt hat, so wird doch ein tieferes Verständniß seiner Dichtungen nur dem ermöglicht sein, der in die Verflechtung zwischen Poesie und Leben, die bei keinem Dichter eine so innige war wie bei ihm, sich klare Einsicht verschafft hat. Diesen Beziehungen bei jedem einzelnen Gedichte nachzuspüren ist, wenn es in der Anordnung geschieht, in der Goethe selber später seiue Gedichte nach allerhand stofflichen Gesichts­punkten geordnet hat, ein unerquickliches und vergebliches Bemühen, bei welchem nichts als eine Unmasse vereinzelter Thatsachen gewonnen wird, die mit der Zeit wohl oder übel sich zn einem Gesammtbilde fügen werden, aber freilich zu einem Bilde, das überall wahrheitswidrig verwirrt und verzerrt sein muß. Nur wer die künstlichen Gedichtgruppen Goethe's wieder auflöst und die einzelnen Gedichte in ihre ursprüngliche Reihenfolge bringt, nur der kann hoffen, das mit der Zeit ein richtiges und deutliches Bild des Dichters vor seinem geistigen Auge erstehen wird.

Vollständig hat sich die chronologische Folge freilich nicht durchführen lassen und wird sich auch nie durchführe!: lassen. Wenn auch unter denGe­dichten" Goethe's der Fall selten vorkommen dürfte, der sofort einträte, wenn man Dichtungen von größerem Umfange mit berücksichtigen wollte, daß ihnen nämlich kaum ein bestimmter Platz in der Zeitfolge anzuweisen ist, weil die Arbeit des Dichters an ihnen sich auf Jahre erstreckt und vertheilt, so nöthigen doch andre Ursachen bisweilen dazn, auf die chronologische Folge zn Gunsten einer mehr stofflichen oder formalen Gruppirung zu verzichten. Lichtenberger hat denn auch beide Eiutheilungsprinzipien mit einander verbunden. Er sagt darüber im Vorwort:Meine Darstellung sucht die Gedichte Goethe's durch sein Leben, und sein Leben durch seine Gedichte zn erklären. Zn gleicher Zeit betrachtet sie diese Gedichte an sich und befragt sie um das Geheimniß ihrer Schönheit. Dieser doppelte Zweck erschwert auf den ersten Blick die Wahl des zu befolgenden Planes. Wenn die Gedichte das Leben und die Empfindungen Goethe's aufhellen sollen, so ist die chronologische Anordnung gebieterisch gefordert: die verschiedenen Perioden seines Lebens bilden die natür-