Beitrag 
Sozialistische Chronik.
Seite
436
Einzelbild herunterladen
 

430

das Vorjahr zugenommen hat, allein der große Stamm ihrer Anhänger ist doch treu geblieben nnd, indem er den wilden Sturm dnrchwetterte, der über die Partei hinfnhr, gewiß eher härter als weicher geworden. Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß ein tiefer Riß mitten durch unser Volk geht, daß ein erheblicher, schon hoch in die Hunderttausende laufender Theil unserer Mitbürger ans der Gemeinschaft des nationalen Bewußtseins losgelöst ist und allmählich, aber sicher einer Entsittlichung oder Verwilderung entgegentreibt, deren erste Schmntzwellen wir schon gegen die Fundamente von Gesellschaft und Staat haben anbranden sehen.

Einen solchen Zustand kann kein Volk dauernd ertragen. Er deutet auf tiefe Schäden im nationalen Organismns, an deren Heilnng nicht früh genug Hand gelegt werdeu kann. Denn darüber ist ja kein Zweifel möglich, daß die böse Saat niemals so üppig hätte in die Halme schießen können, wenn sie nicht auf einen fruchtbaren Boden gefallen wäre. Erst die Noth- und Nebel­stände, unter deuen unsere arbeitenden Klassen litten und leiden, öffneten ihre Ohren für die Stimme des Versuchers. Eine soziale Reform, deren Aufgaben sich mannigfach verzweigen, ist der einzige Answeg ans dem Jrrsal, das einzige Heilmittel der Krankheit. Hierüber ist nirgends ein Zweifel; hierzn sind alle staatserhaltenden Elemente entschlossen. Nnr ist für jede ernsthafte Resorm das einsichtige Verständniß, die rege Theilnahme der Arbeiter selbst nothwendig; auf ihrer Energie und Initiative wird immer der beste Theil des Gelingens basiren. Es fragt sich, wie die irregeleiteten Massen wieder zu gewinnen sind, wie das babylonische Sprachgewirr zu beseitigen ist, in welchem die Söhne desselben Volks sich nicht mehr verstehen. Nach Allein, was in diesen Zeilen über Art und Grad der Gefahr auszuführen versucht wurde, ist die Antwort einfach: der Weg zu dem hoheu Kulturziele der inneren Versöhnung ans Grnnd einer soziale» Reformgesetzgebung geht nnr über die Trümmer jenes demago­gischen Apparats, der polypengleich den deutschen Volkskörper umklammert, mit tausend Saugnäpfen an seinen edelsten Organen zehrt und seine gierigen Fänge täglich weiter streckt. Ein Paktiren mit dieser Demagogie ist unmöglich; sie hat noch jedes Wort des Friedens und der Versöhnung mit frechem Hohn­lachen zurückgewiesen; von ihr gilt tausendmal mehr, wie von ihren Gegen- füßlern, daß sie ist, wie sie ist oder nicht ist; sie kann nicht gebogen, sondern sie muß gebrochen werden.

(Schluß folgt.)

Franz Mehring.