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Neuere theologische Literatur.
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bei der großen Breite der Predigten Luther's nur zu billigendes Verfahren. Dagegen sind die geistlichen Lieder Luther's, wie der maßgebende Gesichtspunkt der Sammlung es erheischte, in vollem Umfange aufgeuvmmen worden. Und so giebt uns das Buch ein zutreffendes Bild sowohl der religiös-sittlichen Ge- sammtanschauung und des inneren Lebensgehalts, die Luther im öffentlichen Wirken zur Geltung gebracht hat, als auch der Einfalt und Schlichtheit, der Kraft und Wärme, der Zartheit und Gemüthsinnigkeit seiner Darstellung, durch welche er der deutschen Sprache eine ihr bis dahin fremde Freiheit der Be­wegung verliehen hat. Mit einem Worte, es zeigt uns Luther als den Be­gründer der geistigen Strömung, welche die neue Zeit eingeleitet hat, und welche auch die Gegenwart trägt, als einen Klassiker deutscher Nation, der mit schöpfe­rischer Gewalt die neue Geisteswelt hervorgebracht hat, und der, gleich ausge­zeichnet durch Klarheit und Tiefe, eben deshalb zum Eigenthum aller Bildungs­schichten unseres Volkes geworden ist.

2. DieWissenschaftlichen Vortrüge über Religiöse Fragen" erörtern die wichtigsten Gegenstände des christlichen Glaubens von entgegengesetzten Stand- Punkten aus. Schließlich bringt daher diese Sammlung keinen einheitlichen Eindruck hervor. Und wir fürchten, so mancher nicht theologisch orientirte Leser wird vielmehr verwirrt als aufgeklärt von der Lektüre dieser Aufsätze aufstehen. Der Verleger hat der Schrift ein Vorwort mitgegeben, in welchem er die Differenz der hier vertretenen Standpunkte zu verdecken sucht, indem er sie darauf zurückführt, daß hier größeres Gewicht darauf gelegt werde, die Un­Haltbarkeit des alten dogmatischen Baues uachzuweisen, dort, den werdenden Neubau zu zeigen. Der Gegensatz liegt aber tiefer. Denn erstens ist das Verhältniß zum alteu dogmatischen Bau hier eine positive, fortbildende Thä­tigkeit, dort ein Verlassen der gegebenen Grundlage; sodann ist der Neuban, der iu's Auge gefaßt ist, hier ein wesentlich andrer als dort. Eben deshalb halten wir es nicht für einen glücklichen Gedanken, daß diese innerlich so wenig übereinstimmenden Vorträge, um deswillen, daß sie in einer Stadt und in einem Winter gehalten wnrden, hier zu einein Ganzen verbunden sind, zumal da zwei andere, ebenfalls diesem Zyklus ungehörige Vorträge selbständig erschienen sind und deshalb hier fehlen. Wir versuchen unser Urtheil durch eine kurze Charak­teristik der einzelnen Aufsätze zu begründen.

Der Streit um die christliche Schvpfungslehre, so lautet das Thema, das Professor vr. Holtzmanu in Straßburg sich gestellt hat. Wir erkennen es an, daß Holtzmcmn gegen eine materialistische Weltanschauung die ideale ver­tritt, aber bedauern es, daß es ihm nicht gelungen ist, die Schöpfung als eiue That Gottes, mag diese auch eine ewige sein, und Gott als Ursache, als freie Ursache, oder richtiger als Urheber der Welt zn begreifen. Er kommt nicht Grenzboten III. 1878.