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Ultenglische Wolkslieder am Klavier.
Die Frau Rektorin, ein regsame kleine Fran mit feinem musikalischem Verständniß nnd einem hübschen Mezzosopran, hatte uns eben durch deu Gesang des unvergleichlichen Brahms'schen Liedes: „Wie bist du, meine Königin, durch sanfte Güte wonnevoll" erfreut, die Frau Superintendentin mit angenehmer Altstimme das Chopin'sche: „Schön war der Morgen und hell schien die Sonne" hinzugefügt, Professor E. hatte ein paar Nummern aus den „Kreisleriana" von Schumann zum Besten gegeben, so trefflich und liebenswürdig, wie sie unter Dilettnntenhänden nur immer sich gestalten können, und ich selber hatte endlich, zusammen mit der erstgenannten Dame, das Schnmann'sche Duett „Großvater und Großmutter" glücklich und ohne Unfall vom Stapel gelassen. Jetzt kam die Unterhaltung wieder in Fluß.
„Kenneu Sie Lieder von dem kürzlich verstorbenen Deprosse?" fragte die Rektorin. — „O gewiß," entgegnete ich, „ich habe Ihnen betheuert, daß ich mich in der Liederliteratur uusrer Zeit redlich umgethan habe und daß mir auch von den äli i^worum Zöiitwui, will sagen von den Geistern dritten und vierten Ranges nicht leicht irgend ein nennenswerthes Opus entgaugen ist. Gewiß denken Sie an das schöne Suleikalied: „Kind, was thnst du so erschrocken" und an" — „Recht, recht," fiel mir die Rektorin in's Wort, „und vor allem an das letzte Lied in demselben Hefte — wie heißt es doch gleich? Es ist eine kleine Nummer, nur eine Seite lang, aber von entzückender Schönheit." — Gleichzeitig sprachen wir die Anfangsworte aus, sie aber setzte mit scherzendem Vorwurf hinzu: „Abscheulich, daß man Ihnen mit nichts Neuem mehr eine Freude machen kann!" „Ebenso wenig, wie Ihnen," konnte ich nach meinen bisherigen Erfahrungen mit gntem Rechte zurückgeben. Die Reihe des Fragens war nun wieder an mir. „Kennen Sie, verehrte Frau, Lieder von Franz Ries? Eine seltene Erscheinung, dieser Ries. Ist Musikalienhändler in Dresden und komponirt sich seine Verlagsartikel selber. Ein Heft mit vier Duetteu namentlich — wir haben ja keinen Ueberfluß an guten Duetten — empfehle ich Ihrer freundlichen Beachtung. Die Opuszahl weiß ich im Augenblicke wahrlich nicht anzugeben, aber das letzte Duett ist über den bekannten Text: „Neuer Frühling ist gekommen", das läßt sich, denke ich, leicht behalten." — Diesmal mußte die Frau Rektorin ihre Unkenntniß eingestehen — es war das erste Mal, obgleich die Frage: „Kennen Sie das" und „Kennen Sie jenes?" heute schon oft genng an sie ergangen war. Denn wo nur immer zwei solche Liederjäger wie wir an einander gerathen, danu geht es nicht viel anders her,