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Bekannter noch ist es, daß die Martinsgans nnd das Martinshorn ursprünglich Dankopfer für Wuotan gewesen sind, welcher in St. Martin, der die äußere Erscheinung, Mantel, Roß und Schwert durchaus mit ihm gemein hat, einen würdigen Stellvertreter gefuudeu hat. Die alten Heidengötter, des Kampfes mit dem übermächtigen Christenglauben müde geworden, haben sich taufen lassen, einen andern Namen angenommen, und walten und regieren nun als Vasallen des großen Christengottes noch heute über die Herzen der katholischen Menschheit.
Der heilige König Oswald, d. i. Aswald, „Walter der Asen", konnte leicht im Gemüthe des Volkes mit dem hohen Beherrscher der Götter, die auch Asen hießen, dem Wuotau, verwechselt, ein Mythus von dem Götterkönig leicht auf den heiligen Oswald übertragen werden. Genauere Betrachtung des uns vorliegenden Gedichtes erhebt diese Vermuthung fast zur Gewißheit. Der Rabe, der dort eine so große Rolle spielt und auch auf den Bildern des Heiligen nie fehlt, wird in den historischen Nachrichten über den König Oswald von England auch nicht mit der leisesten Andeutung erwähnt; aber von Wnotan, dem Asenwalter, wissen wir, daß ihm nach altdeutscher Anschauung zwei Naben, Hugin und Muuin — Gedanke und Erinnerung —, auf den Schultern sitzen, die er jeden Tag aussendet, die Zeit zn erforschen; sie bringen ihm Knnde von dem Geschehenen und Gehörten und raunen ihm dieselbe ins Ohr. Der wunderbare Goldhirsch des Spielmannsgedichtes kehrt in der deutschen Mythenwelt vielfach wieder und gilt als Symbol der hoch über Berg und Thal dahin eilenden Sonne. Oswald macht die erschlagenen Heiden wieder lebendig, wie Wnotan die im Kampfe gefallenen Helden zu neuem Leben in Walhalla erweckt. Auch das weithin tönende Horn, das allerdings nicht im Besitze Oswald's ist, sondern vom Heidenkönig geblasen wird, erinnert an das Horn des Götterkönigs, das er an den Mund setzt, um den Einheriern, den Helden der Walhalla, die Stunde der Gefahr zu künden. Am bestimmtesten aber weisen die oben mitgetheilten Ueberreste altheidnischer Erntefeste, die nach dem heutigen Volksglauben dem heiligen Oswald geweiht sind, ans Wuotan hin, der als Wetterherr und Erntespeuder verehrt wurde, in dessen mächtiger Hand das Gedeihen der Saaten lag.
In St. Oswald lebt Wnotan fort, in den auf ihn bezüglichen Volkstraditionen und Volksgebräuchen haben sich Reste des Wuotanskultus erhalten. Wie nahe liegt da die Annahme, daß auch unserm Gedichte von St. Oswald eine urgermanische Wuotausmythe zu Grunde liege. Sie freilich in bestimmter und faßbarer Gestalt herauszuschälen, wäre ein zn kühnes Unternehmen, an das wir hier uns nicht hinanwagen wollen. —
Das eigentlich klassische Werk der deutschen Spielmannsdichtung ist und