Beitrag 
Vom deutschen Reichstage.
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Dom deutschen Aeichstage.

Berlin, 19. Mai.

Noch einmal, in ihrem äußersten Stadium, muß diese ohnehin schon hin­länglich seltsame Reichstagssessivn einen vollständigen Wechsel der Szenerie er­leben. Am Donnerstag stritt man sich eine Stunde lang, wie die dringendsten Aufgaben am zweckmäßigsten zu erledigen, um den Mitgliedern spätestens am 22. die Heimreise zu ermöglichen, und am Tage darauf kam die Kunde von einer neuen Vorlage, welche an prinzipiell politischer Bedeutung alle Streit­fragen der letzten Monate tief in den Schatten stellt. Wer fragt seit vorgestern noch nach Gewerbeordnung, Tabaksteuer, Wirthschaftspolitik? Alle Aufmerk­samkeit richtet sich auf denEntwurf eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemo­kratischer Ausschreitungen", welchen Preußen beim Bundesrathe eingebracht hat. Eine detaillirte Kritik dieser Vorlage im gegenwärtigen Augenblicke hätte keinen Sinn. Heute oder morgen bereits soll der Bundesrath über sie Beschluß fassen, und voraussichtlich noch ehe diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen, wird auch der Reichstag sein Urtheil abgegeben haben. Unsere Pflicht aber ist, zu konstatiren, daß die Zwangslage, in welche man den Reichstag auf diese Weise versetzt, von allen Parteien überaus peinlich empfunden wird. Auch wer die Kontroverse, ob krankhafte Volksstrvmuugen, wie die sozialdemokratische Be­wegung, überhaupt durch Ausnahmegesetze wirksam bekämpft werden können, ganz bei Seite läßt, wird jedeufalls zugeben müssen, daß der preußische Antrag zum mindesten die eingehendste, sorgfältigste Prüfung erheischen würde. Diese Prüfung ist dem gegenwärtigen Reichstage schon aus physischen Gründen nicht mehr möglich. Auch für die Parlamentarier gelten die Grenzen des mensch­lichen Könnens. Aber die Regierung spricht ein kategvrisches au,r-s,ut, und in der gouvernementalen Presse vernimmt man bereits die Vorklänge der Melodie, welche nach der Ablehnung des Ausnahmegesetzes, gleichviel, ob dieselbe aus materiellen oder nur aus formalen Gründen erfolgt wäre, angeschlagen werden würde.Sie wollen der Regierung die Mittel zur Ausrottung des sozial- demokratifchen Giftes nicht gewähren, darum fort mit ihnen!" dies allein würde fortan der Kehrreim aller offiziösen Leitartikel sein.

Wir denken nicht, daß sich der Reichstag durch solche Perspektive in seinen Entschließungen beeinflussen lassen wird. Der Gesetzgeber soll, wo es nöthig, streng sein; niemals aber soll er im Zorn, niemals in Uebereilung handeln. Diese Regel hat neulich gegenüber einer Maßregel von ungleich geringerer Tragweite das preußische Abgeordnetenhaus beobachtet, wie könnte der Reichstag sie leichtfertig in den Wind schlagen? Grade wegen des Präcedenz-