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Sozialistische KhroniK.
Die sozialistische Bewegung in Deutschland gleicht gewissermaßen Kaulbach's „Hnnnenschlacht" im Treppenhause des Neuen Museums. Während ein heißer Tageskampf den irdischen Boden mit Rinnen und Trümmern bedeckt, tost die Geisterschlacht hoch oben in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt. Von Anfang an gingen beide Strömungen neben-, gelegentlich auch durcheinander. Und es lag dabei in der Natur der Dinge, daß vorzugsweise konservative Denker und Politiker Geschmack an Theorien fanden, welche zn einem Zwangsstaat führten, der den absoluten Staat noch weit überflügelte. Rodbertus nud Wagener unterstützten Lassalle, mindestens so weit er gegen den Liberalismus kämpfte und auch uoch darüber hinaus. Daun kam aber auch eine Zeit, in welcher das theoretische Liebäugeln mit dem Sozialismns in einen Theil der liberalen Schlachtreihen überschlug und hier eine Verwirrung anstiftete, die glücklicherweise ebenso kurze Zeit währte, als sie leider Unheil genug anrichtete.
Es waren die schönen Tage des Kathedersozialismns. Was sich 1872 bei Gründung des „Vereins für Soeialpolitik" vollzog und zwar — uach eiuer Unsitte, welche in einem Theile der deutschen Gelehrtenwelt immer ihre Anhänger gefunden hat — unter viel größerem Lärm und Spektakel vollzog, als nach Lage der Sache irgend angezeigt erschien, war eine nothwendige Auseinandersetzung auf dem Gebiete der deutschen Nationalökonomie. Die glänzenden Erfolge der Freihandelsschule riefen in ihren Vertretern naturgemäß eine Art Unfehlbarkeitsbewußtsein hervor; ihre jüngeren Köpfe berauschten sich förmlich an dem Prinzipe des la-isssr klüre et laisser g-IIm-, das sie in ganz einseitiger Weise proklamirten, ohne irgend Rücksicht auf konkrete Verhältnisse zu nehmen. Sie vertraten eine abstrakte Doktriu, welche iu dieser schroffen Form am wenigsten das Recht hatte, sich auf Adam Smith zu berufen und durch den dazumal in allen Schichten der Nation gleichmäßig grassireuden Schwindelgeist eine grelle Beleuchtung ihrer Unzulänglichkeit erhielt. Die unausbleibliche Reaktion hiergegen war der Kathedersozialismus, der sich mm seinerseits nach der bekannten Erfahrung in das entgegengesetzte Extrem verrannte und seinen berechtigten Kern unter einer dichten Wolke nebelhafter Tränme und Phrasen, selbst für scharfe Augen, ncchezn ganz verbarg. Seine Vertreter fehlten zunächst darin, daß sie nicht einmal einen Versuch zu einer klaren und scharfen Formulirung ihres Programms machten, sondern sich im Wesentlichen begnügten, hinter jede Institution der bestehenden Ordnung ein riesiges Fragezeichen zu setzen, indem sie es Jedem überließen, sich diese Hieroglyphe nach Belieben zu deuten. Sie fehlten weiter darin, daß sie die sozialdemokratische Agitation, die damals