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Sozialistische Chronik.
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modernen Commnnismus. Er nennt heute griiu, was er gestern blau nannte und was er morgen roth nennen wird. Ueber jede öffentliche Frage kann man in der sozialdemokratischen Literatur zehu verschiedene Ansichten finden, die sich vom sanftesten Moll des Stimmenfangs bis zum grellsten Dur unfehlbarer Gesinnungstüchtigkeit steigern. Selbst über die ersten Voraussetzungen ihrer Pläne herrscht unter den maßgebenden Autoritäten und Organen widerspruchs­volle Unklarheit. Marx legt den Schwerpunkt des Systems in seine Werth­theorie, wonach die Arbeit allein werthbildende Substanz sein soll, während Dühring und Schäffle in vollem Einklang mit der liberalen Oekonomie diesen Satz als absolut hinfällig nachweisen. DerVorwärts", das offizielle Partei­organ, bewundert in jener Theorie den unumstößlichen Eckstein des Zukunfts­staats, während dieZukunft", sein wissenschaftliches Schwesterblatt,nichts für irrthümlicher" erklärt, als dies Axiom. Eine Brochüre von Geiser fordert, daß die Jugenderziehung von den Eltern als den natürlichen Beschützern der Kinder geleitet werde, während eine Broschüre von Mostdas augebliche Recht der Eltern, ihre Kinder beliebig zu erziehen, einfach als freche Anmaßung" proklamirt. Und so in wünituin; diese heulenden Widersprüche sind durchweg an der Tagesordnung. Hier sich zurechtzufinden, in dem ewig wechselnden Kaleidoskope die halbwegs festen Grundlinien zu erkennen, die durcheinander schwirrenden Ansichten nach dem Gewicht der Gründe, mit welchen, nach der Autorität der Personen, von welchen sie verfochten werden, zu werthen und darnach den geistigen Gehalt in dem ganzen Treiben richtig abzuwügeu, ist eine Aufgabe, welche zu löse« nicht einmal jedem Politiker von Fach, geschweige jedem patriotischen Wähler möglich ist. Denn sie ist nicht nur unerquicklich und widerwärtig, sondern zugleich in höchstem Grade zeitraubend; wenn auch in keinem andern Punkte, so beweist die Sozialdemokratie wenigstens in der Hervorbringung von Maknlatur eine Produktionsfähigkeit, vor welcher die heutige Ordnung beschämt die Segel streichen muß. Uuter solchen Umständen mag es vielleicht nützlich sein, von Zeit zu Zeit das Strombette der Bewegung nach den Spuren zu untersuchen, welche der agitatorische Tagesschlamm hinter­lassen hat, in gemessenen Zwischenräumen eine Rechnung des augenblicklichen Parteistandes aufzumachen nach seinen bleibenderen und tieferen Gestaltungen, wie es die Absicht dieser anspruchslosen Chronik ist.

Seit dem Gothaer Vereinigungskvugresse bilden die letzten Reichstagswahlen den erstren, tieferen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Svzialdemokrcitie. Ihre Wahlsiege riefen zwei Strömungen,' wach, die im Laufe dieses Jahres immer deutlicher erkennbar hervortraten: einerseits einen geistigen Niedergang, ein immer stärkeres Zerfließen und Verschwimmen des Parteiprinzips, soweit von einem solchen überall noch die Rede sein konnte, andererseits wiederum