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Schweizer Reisebriefe. III.
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zwei Monaten verblüht ist. Alpenvergißmeinnicht und blaue Enzianen sprießen an wasserreichen Stelleu zu uusereu Füßen. In umgekehrter Reihenfolge und Richtuug überschreiten wir ans dem Kamm des Gebirges hoch über den von unten geschauten Fällen, die fünf Gebirgswasser, die nur im Thal ans dem Herweg dnrchmaßeu. An einer Felstrümmerwüste von etwa viertelstündiger Breite sind wir unten vorbeigekommen. Hier, einige tausend Fnß höher, treffen wir in genau derselben Linie abermals ein breites Wirrsal von Felstrümmern. Nur unterscheiden diese hier oben sich durch ihre weit größeren Dimensionen, die ein solideres Beharren auf der ihnen von Natnr gesetzten Basis recht­fertigte,!, vor den etwas leichteren Vettern und Geschwistern, welche plötzlich einmal die Thalreise autraten und nun da unten ode und zertrümmert anfragen. Welche Naturgewalt hat die für unsere Tieflandbegriffe immerhin riesigen Felsblöcke da hiuab geführt? An einen Bergsturz, der sonst hänfig genug durch Lawinen herbeigeführt wird, ist hier nicht zn denken. Wir haben dabei mit älteren und mächtigeren Naturgewalteu zn rechnen. Die Form des Gesteins zu unseren Füßen, das sich in derselben Beschaffenheit hinzieht bis hinauf zu den steilrecht aufragenden silbergrauen Wänden des großen Nnchen nnd der beiden Wiudgällen mit ihren Schneekrvnen, verräth uns die muthmaßliche Ur­sache dieser Felstrümmer. Deutlich zeigen die tiefausgehöhlten Rinnen dieses Felseubodens, die auch beim heftigsten Hochgewitter heute nicht mehr voll Wasser fluthen, deutlich zeigen die steilen zerissenen Ränder dieser Rinnen und die noch heute uns so uahe Greuzlinie des ewigen Schnee's, der ans Schußweite au uns Herautritt, daß hier vor nicht unvordenklicher Zeit gewaltige Gletscher­massen bis zur steilen Höhenwand des Thales sich vorlngerten und, wie jeder Gletscher; jene Felsblöcke vor sich hergeschoben haben mögen. Denn jeder Gletscher ist ein ans flüssigein Firnschnee entstandenes, bald weicheres, bald er- starrteres, immer bewegtes, bald zu Thal fluthendes, bald rückwärts ebbendes Eismeer.

Vor Allem eine Aenderung aber ist hier oben vor sich gegangen: die Sonue hat die Höhenwand des Düssistockes überschritten und ist nun für uns da; nicht langsam und fern am Horizont aufsteigend, und allmählich, nach Stunden erst, mit ihrem vollen Gluthstrahl uns treffend wie in tieferen Ge­birgslagen oder in der Ebene; sondern plötzlich rollt.sie über den Gebirgskamm hoch über uns, und in wenigen Minuten ist alles vor uns, was bis dahin noch im Schatten gelegen, mit blendendem Licht und mit sofort fühlbarer Wärme übergössen. Ohue Zaudern wird der Rock ausgezogen; Tropfen um Tropfen perlt der Schweiß von der Schläfe; der Durst regt sich und der weise Ver­walter unserer flüssigen Schätze bewilligt männiglich das stattliche Quantum von drei Viertheilen eines Deeiliters säuerlichen Hallaners, der trefflich mundet.