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daß unsre bisherigen Beobachtungen nicht hinreichen, in allen Fällen genau die Grenze zwischen ähnlichen Arten zu bestimmen. Der Schluß, daß es deßhalb überhaupt falsch sei, scharf unterschiedene Arten anzunehmen, ist ebenso berechtigt wie der, weil in der Dämmerung der Eine ferne Gegenstände für Bäume erklärt, der Andere Menschen in ihnen zu erkennen meint, so gebe es keinen scharfen Unterschied zwischen Bäumen uud Meuschen. Noch weniger erlaubt aber ist der Schluß, dieser Mangel nn scharfen Grenzen beweise, eine Art sei aus der andern hervorgegangen; denn wir haben genau dieselbe Unsicherheit in der Abgrenzung vieler Mineralienarten gegen einander, finden genau dieselbe Verschiedenheit der Ansichten verschiedener Mineralogen darüber, was zu einer Art zu vereinigen sei, aber gewiß würde man an dem gesunden Menschenverstände dessen zweifeln, der daraus fchließen wollte, eine Mineralienart sei aus der andern entstanden. Schon der Umstand, daß jene Unsicherheit nur bei einer verhältuißmäßig geringen Anzahl von Arten obwaltet, während nach Darwin „die Natur täglich und stündlich mit der Veränderung jeder Art beschäftigt ist," zeigt, daß wir es hier nur mit Eigenthümlichkeiten einzelner Arten, nicht mit einem Gesetze zu thun haben, welches die gesammte Artenbildung beherrscht.
Das führt den Verfasser zu näherer Betrachtung der scheinbar mit der Beständigkeit der Arten unverträglichen Veränderlichkeit derselben. Die Erfahrung lehrt, daß Nachkommen eines und desselben Paares nicht durchaus mit ihren Eltern übereinstimmen, sondern bald in diesem, bald in jenem Merkmal von ihm abweichen, und daß diese individuellen Verschiedenheiten häufig sich vererben. Darwin behauptet, diese Abweichungen summirten sich allmählich, steigerten sich immer mehr, da die Veränderlichkeit der Arten unbegrenzt sei, und würden so Ursache, daß aus einer Art neue Arten, ja ganz neue Gattnugeu, Ordnuugen uud Klassen entständen. Fragen wir dem gegenüber , ob die Veränderlichkeit der Arten wirklich unbegrenzt oder in gewisse Schranken eingeschlosseu ist, so ist zuuächst zu konstatiren, daß wir im Ganzen für unsere Antwort nur ein spärliches Material zur Verfügung haben, d. h. genau genommen nur die bis jetzt planmäßig gehegten Thiere und Pflanzen, deren Veränderlichkeit benutzt wird, um zufällig an einzelnen Individuen entstandene, dem Menschen vortheilhafte Umwcmdelnngen, z. B. der Größe, der Farbe, der Wolle bei Thieren, der Blumen und Früchte bei Pflanzen dauernd zu erhalteu. Wo letzteres der Fall ist, spricht man von einer Rasse. Fragen wir nun die Thierzüchter und Gärtner, welche auf solche Rassenbildung und Steigerung zufällig an einzelnen Individuen auftretender Eigenschaften ausgehen, ob die Veränderung unbegrenzt sei, so erfahren wir mit Bestimmtheit, daß dies nicht der Fall, ja daß es schon große Mühe koste, die erreichte Grenzboten III. 1877. 2