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gegangen ist. Manche glauben, es sei nicht von Konfutse, dem es die Chinesen zuschreiben, sondern die Kompilation eines Dynasten von Chow, der im zwölften Jahrhundert gelebt habe. Jedenfalls bildet sein Erscheinen einen der wichtigsten Wendepunkte in der Kulturgeschichte China's, da es auf die Anschauungen und Lebensgewohnheiten der Chinesen aller Jahrhunderte bis auf die Gegenwart herab einen tiefgehenden Einfluß geübt hat, dem der keines anderen Buches gleichkommt. Auch für die geringste häusliche Verrichtung und die unbedeu- tendsten Pflichten und Leistungen des täglichen Verkehrs hat der Verfasser Normen und Regeln aufgestellt. Und welchen Werth noch die heutige Generation auf das Buch legt, erhellt daraus, daß in Peking ein eignes Kollegium von sechs kaiserlichen Räthen besteht, welches nur zum Zweck der Überwachung der strikten Befolgung der Vorschriften, die das Le ke enthält, eingerichtet ist und seine Beaufsichtigung über das gesammte Reich erstreckt. Die ganze Seele des Chinesen geht in Ceremoniell auf, und deßhalb kann man das Ritnalien- bnch als die treueste Schilderung des ureignen Wesens bezeichnen, die je ein Volk durch einen seiner Stimmführer von sich selbst entworfen hat. Den zarteren Regungen des Gemüthes, wenn etwas der Art bei einem Chinesen zu suchen ist, und ebenso allen gesellschaftlichen und moralischen Pflichten wird durch Ceremonien Genüge gethan. Es gibt keine Wechselbeziehung zwischen Sterblichen, für welche der Sohn des Reichs der Mitte nicht durch irgend einen Paragraphen seines Formalitütencodex gesorgt hätte. Der ganze Mensch in seinem Verhältnisse zu Eltern und Geschwistern, zur Gesellschaft, zum Staate, zu den Göttern geht in diesem ungeheuren Wüste von Formeln auf.
Von den „klassischen" Schriften, die sämmtlich das Gepräge des Geistes Konfntse's tragen, kann indeß nur eine mit voller Bestimmtheit auf diesen Weltweisen als Verfasser zurückgeführt werden, nämlich das Chun Tsew, das Frühlings- und Herbstjahrbuch. „Die Welt", so berichtet Mengtseu, ein späterer chinesischer Philosoph, „begann aus den Fugen zu gehen, und Gesetz und Recht wurden mit Füßen getreten. Gottlose Rede und Gewaltthat hatten die Oberhand. Der Sohn mordete den Vater, und selbst das Blut des höchsten Gebieters wurde vergossen. Konfutse fürchtete für die Menschheit und schrieb das Chun Tsew. Und kaum war es erschienen, als die abtrünnigen Berather des Herrschers erbebten und die ruchlosen Söhne erzitterten. Ich habe es gewagt, die Gerechtigkeit wieder zur Herrschaft zu bringen, schrieb Konfutse." Hiernach und nach dem Titel dieser Schrift, der auf „die erquickende, ueues Leben verleihende Wirkung des Ruhms und welk machende Kraft des herben Tadels" hinweisen soll, sollte man erwarten, an der Hand fortlaufender geschichtlicher Erzählung mit eingestreuten philosophischen Betrachtungen ein Bild jener entlegnen Zeit mit den wichtigsten Typen und