Die Verwirklichung der deutschen Grundrechte in der
Hegenwart, i.
Am 18. Mai 1848 wurde die constituirende Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirke zu Frankfurt a. M. eröffnet. Getragen von dem gewaltigen Strom patriotischer Begeisterung, welcher in jenen Tagen durch Deutschland wogte, traten hier die Vertreter der deutschen Nation zusammen, um dieser die ersehnte einheitliche Verfassung zu schaffen; „begrüßt von dem Jubel und dem Vertrauen des ganzen deutschen Volkes", wie es in dem Begrüßungsschreiben des Bundestages hieß, dessen eigene Existenz durch den Frühltngssturm des Jahres erschüttert war, und der bald darauf, und zwar, wie man damals meinte, für immer, seine ruhmlose Thätigkeit einstellen sollte.
Und mit fieberhafter Spannung war der Blick der Nation gen Frankfurt gerichtet! Aber Woche auf Woche, Monat auf Monat verging, ohne daß das Verfassungswerk zum Abschluß gebracht oder auch nur wesentlich gefördert worden wäre. Das Parlament hatte nämlich, gleichwie es die französische Constituante von 1789 gethan, in erster Linie die allgemeinen Menschenrechte, oder, wie man sich ausdrückte, „die Grundrechte des deutschen Volks" aufzustellen beschlossen, und die Versammlung, deren Charakter vermöge ihrer Zusammensetzung ohnedies ein wesentlich doktrinärer war, erging sich nun in endlosen Debatten über die Urrechte des Menschen im Allgemeinen und des Deutschen insbesondere, anstatt ihre ganze Thätigkeit auf die Aufrichtung der Verfassung des projectirten deutschen Gesammtstaats zu richten, dessen Realisirung in jenen Tagen nationaler Erhebung immerhin nicht ganz zu den Unmöglichketten gehörte.
In solchen Zeiten ist aber jeder Tag kostbar. Die Aufregung der Masse, die Zurücksetzung aller materiellen Interessen gegenüber einem großen natio- Grenzboten III. 1876. 46