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ist. Der Verfasser hat wohl Recht, das Wesen des Staates nicht blos in die formale Handhabung des Rechts zu setzen: ist doch das lebendige Recht selbst nichts blos formales, sondern in seiner conereten Gestalt durchweg von ^n natürlich-sittlichen Verhältnissen unzertrennlich, die es zu regeln hat. Aber das Anerkenntniß. daß der Staat eine über das bloße Rechtsgebiet hinausgehende sittliche Aufgabe habe, verpflichtet noch lange nicht, ihn zu der Verwirklichung der sittlichen Idee schlechthin zu machen, zur „Centralisation der sittlichen Functionen", zum „sittlichen Mikrokosmus". Dieser überspannte Hegel'sche Staatsbegriff, dessen folgerichtige Durchführung das Grab seder höheren Freiheit als der rein politischen wäre, kommt jetzt leider wieder in Aufnahme, indem theils die großen politischen Erfolge unsres Volkes zur Ueberspannung der Staatsidee verführen, theils der herrschende Skepticismus gegen das Uebersinnliche und Religiöse die Gedanken Vieler nicht höher als bis zu diesem Zugleich sittlichen und sinnlichen Erdengott aufsteigen läßt; aber im Grunde ist er nichts anderes als die antikheidnische, griechisch-römische Auffassung des Staates, die das Christenthum ein für allemal abgethan haben sollte. Hätte diese Staatstdee Recht, wäre der Staat die sittliche Gemeinschaft schlechthin und die Kirche nur die religiöse Seite derselben, dann wäre der Staat das Reich Gottes auf Erden: bedarf es erst des Beweises, daß das ein dem Christenthum durchaus fremder und antipathischer Gedanke ist? Wie könnte auch der Staat die Verwirklichung der sittlichen Idee sein, da die volle Verwirklichung der sittlichen Idee wie in dem Einzelnen, so in der Gesammtheit einer anderen, jenseitigen Welt angehört, in die der Staat mit keiner ^aser seines Lebens hinüberreicht; da auch auf Erden schon die höhere Sittlichkeit, die allein wahre, nicht aus Gesetz und Gebot und aus Furcht der Strafe kommt, sondern aus der freien Liebe Gottes, die der Staat in niemandem hervorrufen kann; ja da der Staat theilweise selbst der gröbsten Un- sittlichkeit mit seinen Mitteln nicht zu steuern vermag und daher auch zu steuern gar nicht für seinen Beruf hält, z. B. den Sünden der Unkeuschheit, deren bei der vom Staat der Kirche aufzutragenden „Heilung der Sitten" zu gedenken der Verfasser auffallend vergessen hat? Und andrerseits, wie könnte es der Idee der Kirche genügen, die religiöse Seite des Staates zu sein, da hiermit die Religion, dieser höchste und in die Ewigkeit hineinreichende Selbstweck, zum Mittel für den immerhin irdischen und endlichen Staatszweck herabgesetzt würde; da die Basis des Staates die Nationalität ist, die Kirche aber von Haus aus „nicht Juden noch Griechen" kennt, und auch in ihrer evangelischen Ausprägung die Anlage und Bestimmung hat, kosmopolitisch, Menschheitlich zu sein und zu werden; endlich, da jeder Versuch, die Zwecke der Kirche mit den Mitteln des Staates zu fördern, von jeher nur zur Verfälschung derselben, zu den widerwärtigsten Erscheinungen der Weltgeschichte, Grenzbotm II. 1876. 33