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Lehmann hat mit der Untersuchung über Schön's Erzählungen eine zu ähnlichen Ergebnissen gelangende Kritik der Denkwürdigkeiten Knesebeck's verbunden. Das was Knesebeck über seine Mission nach Rußland im Anfang des Jahres 1812 später am Abende seines Lebens mitgetheilt hat, steht in unlöslichem Widerspruch zu den gleichzeitigen Akten und Berichten. Schon Max Duncker hatte 1871 in seiner wahrhaft epochemachenden und für alle diese Studien wirklich grundlegenden Abhandlung „Preußen während der französischen Occupation" die wichtigsten Momente dieser Kritik hervorgehoben. Lehmann hat die Duncker'sche Anregung weiter verfolgt, er stimmt dabei Duncker's Gründen und Auffassung vollständig zu, indem er das von Duncker angedeutete eingehender darlegt. Wenn dabei in einer Detailfrage eine Differenz Zwischen beiden Forschern sich ergeben, so hat Duncker nach dem Erscheinen des Lehmann'schen Buches in den Preuß. Jahrbüchern (Januarheft 1876) die Untersuchung hierüber auch seinerseits noch einmal aufgenommen und (ich schließe mich gerne dem Urtheile Treitschke's an) zum Abschluß gebracht.
Der General von Knesebeck hat sich aber noch eine andere Fabel zu erfinden und zu verbreiten erlaubt — die Erzählung, daß 1812 nicht weniger als 300 preußische Offiziere den Abschied genommen hätten, und zwar auf Scharnhorst's Veranlassung. Daß Scharnhorst nicht der Urheber des Massenaustrittes gewesen, das hatten schon Droysen und Duncker genügend gezeigt; aber Lehmann verweist jetzt mit vollem Rechte die ganze Geschichte selbst ms Reich der Fabeln und unbegründeten Anekdoten. Indem er im Einzelnen genau prüft, wer damals aus dem Heere ausgeschieden und welche Motive den Einzelnen geleitet, stellt er auch für diese Frage die aktenmäßig bewiesene Thatsache in Gegensatz zur später entstandenen von einem einzelnen für glaubwürdig gehaltenen Berichterstatter vorgetragenen Tradition.
Man steht, auch auf dem Gebiete neuerer und neuester Geschichte ist die historische Quellenkritik eine Nothwendigkeit und eine Wohlthat. Sie ist schwieriger zu handhaben bei neuerer Geschichte als auf den Feldern des Alterthums und des Mittelalters, wo sie erwachsen und ausgebildet ist. Aber ihre Übertragung und Anwendung in neuerer Geschichte ist nicht mehr zu vermeiden und zu verhindern, wie lebhaft auch liebgewordene Borstellungen und hergebrachte Meinungen über den Einbruch des kritischen Störenfriedes klagen und schelten mögen.
Wenn der so beuteretche Streifzug Lehmann's auch weitere Kreise erregt
Auflage seines York an seiner früheren hiervon abweichenden Auffassung festgehalten. Uebrigens bei allen Abweichungen in einzelnen Detailfragen fühlt man sich dem „Leben Uork's" gegenüber bei jeder neuen Lektüre zu neuer Bewunderung hingerissen. In selten erreichter Weise ist es dem Meister historischer Forschung und Darstellung gelungen, das Charakterbild seines Helden fest auszuprägen und Plastisch zu gestalten I