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schon unzählige Schafe in den Kirchenpferch gejagt. Eines garstigen Tages dürfte die „zahlungsfähige Moral" sich zu ihrer nicht geringen Ueberraschung bankerott sehen, und dürfte der liberale Bildungsphilister, „der Träger der Intelligenz und des Besitzes", sich genöthigt finden, an die vereinigten Syllabuse des Pio Nono und des Feist Löb zu glauben".
Daß in diesem doppelten Culturkampf nur geistige Bildung und sittliche Zucht, nur der werkthätige Glaube an das Evangelium der Arbeit uns vor dem Verfall retten und Deutschland weiterführen, den Sieg gewinnen können, das weiß Scherr, darum will er, daß das Reich sich immer mehr der Volksschule annehme; „die entscheidenden Schlachten in diesem Krieg werden nicht in Ministercabinetten und Parlamentssälen, sondern in den Schulstuben geschlagen werden". Nur die pflichttreu geführte Schule kann der furchtbar um sich greifenden Verwilderung der Massen wirksam entgegenarbeiten. Jede Lehrstunde in Physik oder Chemie arbeitet dem Syllabus entgegen; aber ebenso nothwendig ist die sittlichreligiöse Erziehung gegen die Irrlehre des Socialismus. „Wenn sich gegen den breitspurig einherwälzenden, alles vergemeinernden verschlammenden, versumpfenden und verpestenden Strom des Materialismus nicht eine ideale Gegenströmung aufmacht, nicht bald und gewaltig aufmacht, so wird das deutsche Reich nicht ausgebaut, der deutsche Rechtsstaat nicht begründet, das dem romanisch-katholischen Autoritätsprincip entgegenzustellende germanisch-protestantische Freiheitsprineip nicht in Thätigkeit gesetzt werden."
Die Hinwendung unsrer Zeit auf die materiellen Interessen, auf Erforschung und Ausbeutung der Natur hält Scherr für kein Unglück, vielmehr für heilsam, „weil die Expansion der Civilisation eine entsprechende Erweiterung ihres materiellen Fundamentes schlechterdings voraussetzt, weil die materielle Entwicklung den Kreis derer, welche für den Genuß der Güter des Lebens und des höchsten derselben, der Bildung, befähigt sind, nothwendig von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde erweitert, die Elasticität des Menschengeistes ins Unendliche steigert, die Hilfsmittel der Gesellschaft vermehrt und so allmählich der Gesamtheit der Menschen eine menschliche Existenz zu schaffen verspricht, welche eben als solche die Neubethätigung idealer Stimmungen und Kräfte in sich begreift". Die Ausschreitungen des theoretischen Materialismus, meint er am Schluß der Culturgeschichte, werde die sittliche Kraft unsrer Nation unschwer zu bändigen wissen; aber die Blätter im Winde finden die Sache doch bedenklicher. „Kein unbefangner und gerecht Urtheilender wird verneinen, daß die Folgen der von Kathedern und Dächern und Ecksteinen gepredigten materialistischen Weltanschauung in traurigster Weise sich spürbar machen. Wie ein hungriger Wolf geht der Genußteufel um, und die Zahl seiner Anhänger heißt auch in Deutschland Legion.