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Briefe aus Belgien.
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die Rede gewesen ist, namentlich seitdem der Gegensatz des Liberalismus und Ultramontanismus alle anderen Gegensätze als secundär erscheinen läßt, so muß ich etwas weit ausholen, um darzulegen, wie das gegenwärtige Nationalitätsverhältniß entstanden ist.

Als sich 1830 Belgien durch die Revolution von Holland losriß, wurde den flandrischen Provinzen durch das Staatsgrundgesetz die volle Gleich­berechtigung mit den wallonischen zugesichert. Da es aber damals den Vlamen an Kapacitäten fehlte, welche geeignet gewesen wären, diese verbrieften Rechte in der Praxis der Verwaltung und den Kammern aufrecht zu erhalten, so blieben sie leere Worte aus dem Papier. Man hätte glauben sollen, daß der deutsche Prinz, welcher auf den belgischen Thron berufen wurde, von dem Bestreben beseelt gewesen wäre, sich der echt germanischen Bevölkerung gegen die Unterdrückungen Seitens der Wallonen anzunehmen, zumal da er sonst ein edel denkender Mann war. Allein in Deutschland selbst war trotz der Größe der letzten Vergangenheit das Nationalgefühl von Jahrzehnt zu Jahr­zehnt tiefer gesunken. Eine miserable Reaction erstickte durch eine inquisitions­artige Verfolgung jede deutsch nationale Regung, jedes Hoffen und Streben nach deutscher Einheit. Wie hätte ein in solcher Atmosphäre aufgewachsener Prinz ein Herz für nationale Interessen mitbringen sollen. Und selbst wenn Leopold I. gesonnen gewesen wäre, das nationale Gefühl der Vlamen zu respectiren und zu schützen: die Wallonen waren im Besitz einer bei weitem überlegneren politischen Taktik und wußten sich in Verwaltung und Kammer gleich von vorn herein eine solche Majorität zu verschaffen, daß bei dem stark ausgeprägten Constitutionalismus des neuen Staates der Hos wohl mit ihnen gehen mußte. Seit mehreren Jahrhunderten hatten die Wallonen an jeder Regung und an jedem Fortschritt des französischen Geisteslebens participirt, und auf ltterarischem und publizistischem Gebiete besteht seit lange keine Grenze mehr zwischen beiden Ländern. Zwar haben die Wallonen darüber den letzten Rest ihrer nationalen Etgenartigkeit eingebüßt, aber es konnte nicht unterbleiben, daß sie dadurch wesentlich an politischer Reife gewannen und sich eine taetische Ueberlegenheit bei den Wahlen und in der Publicistik aneigneten, welche ihnen die völlige Hegemonie über die Vlamingen, fast könnte man sagen ein geistiges Spartiatenthum über die germanischen Periöken und Heloten sicherte. So wurde, so blieb das Französische ganz unberechtigt die eigentliche Landessprache. Allerdings war sie geeigneter und bequemer für den officiellen Gebrauch, als die literarisch weniger ausgebildete, an technischen Bezeichnungen ärmere vlamische Sprache. Die gebildeten Stände der Vlamen bedienen sich beider Sprachen mit derselben Leichtigkeit, während natürlich die Wallonen das vlamische ungleich schwerer lernen. Aber hatte man deshalb die Berechtigung, eine französische Fremdherrschaft in allen Zweigen der