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Jedoch zurück zur allgemeineren Frage! Die religiöse Kunst in Worten, im Gebete, in der Literatur, im Liede :c. ist die ergreifendste und mächtigste. Sie steht durch ihren geistigen Inhalt im Vordergrunde, wird aber als die selbstverständlichste und am bequemsten auszuübende von den Wenigsten hinlänglich gewürdigt. Wie Vielen ist wohl die Frage ausgetaucht: „welches ist denn das herrlichste Kunstwerk in Worten?" Ich antworte: Das, was Ihr als kleine Kinder schon lerntet und später mit mehr oder weniger tiefem Nachdenken unzählige Male gesprochen habt, nämlich „das Vaterunser." Welches andere Meisterwerk in Worten übertrifft dieses von Christus herstammende Gebet, in welchem in wenigen Sätzen die Inbrunst des Herzens mit allen seinen Wünschen und so tiefe Gedanken, die nie zu Ende gedacht werden können, laut werden? — Wie Schiller sagt, daß der blaue Himmel verständlich für jedes Kind und doch von unermessener Tiefe sei, so auch das Vaterunser für alle Menschen. Das Wort: „So sollt ihr beten!" gilt daher für alle Zeiten. —
„Zwei mal zwei ist vier" kann so.wenig wie der pythagoräische Lehrsatz zu einem Gedichte begeistern.
Es leuchtet also wohl ein, daß die Kunst mit der Religion das Gemeinschaftliche oder besser gesagt dieselbe Grundlage hat, nämlich daß tiefes Empfinden in beiden vorwalten und zum Ausdruck kommen muß.
Erfüll' davon dein Herz so groß es ist,
Und wenn Du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn es dann, wie Du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Nanch,
Umnebelnd Himmelsglut. Goethe sagt es uns in diesen Versen mit den schönsten, tiefempfundensten Worten. — Ja das ist ja das Eigenthümliche, daß zum Ausdruck einer tiefen Empfindung die Kunstform absolut nothwendig ist, so daß wir nicht in Prosa, sondern nur in poetischen Worten die Macht der Musik schildern können. Lenau hat die Melodien Beethoven's besser in Versen geschildert, als je ein Musiklehrer es in weitschweifigster Prosa vermag.
Im umfassendsten Sinne muß uns daher der Gottesdienst die Erbauung an all diesen Schöpfungen der Kunst sein, die den Aufschwung der Seele zu Gott, sei es im Glauben, in der Hoffnung und Liebe, sei es im stolzen Gefühle der Kindschaft des ewigen Vaters, sei es in der demüthigen zerknirschten Reue des verlorenen und zurückkehrenden Sohnes darstellen.
Als noch die Völker in ihrer Kindheit den Gottesbegriff nur dunkel ahnten und die Gabe der Mittheilung durch Schrift sehr beschränkt war, da