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Literatur.
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aber schlingt sich deutlich fühlbar der Faden, der die nordische Poesie noch mit der Götterdichtung unsrer Ahnen verknüpft. Bald erinnert nur eine eigen­thümliche Naturauffassung, dann ein Anrufen der alten Helden daran, dann wieder ist der Grundgedanke einer Romanze oder Ballade der Mythologie entnommen. Wassermänner und Frauen, Schneekönigin, Kobolde steigen auf und könnten durch ihre Menge erschrecken, sie sind' jedoch zum Glück nicht verschwimmende Mondschein-Nachtfiguren in Tiek'scher Weise, sondern im Bösen und Guten kräftig und individuell gehalten.

So erklärt sich vielleicht auch die sonderbare Erfahrung, daß, während die deutschen Dichter in geistvoller Naturreligion auch unsre neusten Roman- und Novellenschriftsteller' in ihrem großartigen Pantheismus den Dänen Heiberg und seine Frühlings-Phantasie, Gottesdienst, an Bedeutung und Ur­sprünglichkeit der Gedanken bei weitem überragen, ihre Schöpfungen doch an eigentlicher Volkstümlichkeit im Allgemeinen gegen ihre nordischen Brüder zurück stehen.

Es gab eine Zeit in der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts, als die Poesie unter dem Einfluß Uhland's zur Volkstümlichkeit zurückkehrte. Uhland entdeckte gleichsam von Neuem den lebenden Urkern unsrer Poesie, er führte Bilder und Anschauungen der alten Germanen seiner Zeit vor, und glücklicher als Klopflock, der einst dasselbe versucht, wußte er die Gedanken der Mytho­logie dem modernen Deutschland so zu geben, daß sie verstanden wurden- Nach ihm und seiner Schule aber erlosch wieder das Verständniß für den altdeutschen Sagenstoff.

Jetzt wird in unsern höhern Schulen der Inhalt des Mahabarata und Namajana kennen gelernt, unsre Volksschullehrer machen sich darauf gefaßt, beim Examen möglicher Weise Auskunft über das Königsbuch Schahname oder über die metaphysische Lehre des Alfanabt geben zu müssen, unser eigenstes Eigenthum, den Mythus unsres Volkes, die Edda dagegen, kennen die Meisten nur vom Hörensagen. Bis vor wenig Jahren freilich fehlte es an einer allen verständlichen Uebersetzung; Simrock hatte den Versuch allerdings gemacht, die vergessenen Gesänge dem Volke wieder zu erwecken, er war gescheitert.

Seit 1872 besitzen wir in der Bearbeitung von Werner Hahn einen Kreis von Eddagesängen, der uns die geheimnißvolle, tiefinnerliche Gedanken- und Gefühlswelt unsrer Ur-Väter in schöner Klarheit erschließt. Eine Ein­leitung voll warmer Begeisterung für seinen Stoff weist uns auf den Ge­sichtspunkt, von dem aus der berühmte Literaturhistoriker sein Werk erfaßt sehen will, zahlreiche und eingehende Erläuterungen helfen auch dem weniger Eingeweihten zum Verständniß unsrer alten Poesie.

Jetzt ist die gesegnete Zeit, wo der Deutsche sich seiner Machtstellung nach außen, seiner geistigen Unabhängigkeit nach innen wieder bewußt geworden, und welcher Deutsche, der sich dessen bewußt geworden, stimmte nicht freudig ein in den Feldruf:Hie Waiblingen," beim Kampf gegen das guelfische Papstthum. Wer sich aber klar ist über das, was wir wollen und wohin der Kampf uns führen soll, der frage sich auch einmal, von wannen er ge­kommen, wo sein erster, innerster Grund liegt.

Fragt die Edda, sie sagt es Euch! Sie erschließt wie kein andres Werk deutschen Ursprungs: Wie sie war, wie sie ist, wie sie bleiben wird die ur­sprüngliche, sittliche, nicht zu betrügende Hoheit germanischen Geistes.

Verantwortlicher Redakteur: vr. HanS Blum in Leipzig. Verlag von K. L- Hclbin in Leipzig, Druck von Hnthel 6, Herrmann in Leipzig-