519
schlugen den Verlust für den Augenblick doch höher an. Das macht ihrer Einsicht immerhin Ehre. Das Vertrauensvotum kommt ihnen aber doch nachträglich sauer an. Es ist doch zu wenig fortschrittlich. Die Partei läßt daher nachträglich erklären, sie habe kein Vertrauensvotum geben wollen, sondern die geheimen Ausgaben des Auswärtigen Amtes seien nach ihrer „Tradition" ein überall nothwendiger Posten. Wir wollen diese „Tradition" einer historischen Kritik nicht unterziehen. Genug, daß die Fortschrittspartei sich gegen das Vertrauensvotum für den Reichskanzler verwahrt. Man sollte fast denken, die Herren glauben die Zeit nicht so fern, wo ihnen die Geschäfte zufallen, und machen darum den Anfang mit der Anerkennung gouvernemen- taler Traditionen.
Uns ist bei diesen Aeußerungen sehr wenig scherzhaft zu Muthe. Welches ist unsere Lage? Der Kanzler hatte am 16. Dezember sein Demisstonsgesuch eingereicht, der Kaiser aber es nicht angenommen. Nachdem der Reichstag die Gelegenheit rasch benutzt hat, den Eindruck des Votums vom 16. Dezember auszulöschen, hat der Kanzler zunächst äußerlich keinen Grund, auf seiner Demission zu beharren. Alle Welt aber sagt sich, daß er Grund haben muß, mit seiner Stellung nicht zufrieden zu sein, und zerbricht sich über diesen Grund den Kopf. Wir wissen nicht mehr als alle Welt, aber eine Vermuthung liegt nahe genug, und wenn man recht überlegt, eigentlich nur diese Eine. Es ist kein Geheimniß, daß eine Partei, die in die höchsten Kreise dringt, unermüdlich daran arbeitet, die Ueberzeugung zu befestigen, daß der vom Kanzler geführte Kampf mit Rom ebenso unnöthig als gefährlich sei. Man bietet einen Frieden an, der äußerlich das Ansehen des Staates nicht beeinträchtigen würde. Fürst Bismarck aber, der, wie die nun veröffentlichten geheimen Dokumente beweisen, so eifrig den Frieden mit Frankreich will, kann den Frieden mit Rom nicht wollen, weil er Rom nicht als kriegführende Macht anerkennt, oder vielmehr, weil kein Staat, am wenigsten aber das deutsche Reich, Rom diese Anerkennung gewähren darf. Der Fürst verlangt von Rom nicht den Frieden auf irgend welche Bedingungen, die eines Tages umgestoßen werden können und vom ersten Tage an nicht gehalten werden, sondern er verlangt, nicht von Rom, wohl aber von jedem deutschen Katholiken die Unterwerfung unter das Staatsgesetz. Wer will ermessen, wie dem Fürsten Bismarck die Behauptung dieser einzig correkten und fruchtbaren Position erschwert werden mag. Leicht möglich, daß er sie nur behaupten kann durch die Ueberzeugung, daß der Reichstag ihm unwankend folgt. Wird diese Ueberzeugung durch eine Abstimmung, wie die vom 16. Dez., widerlegt, so kann es wohl kommen, daß die Kraft des Fürsten den Kampf gegen geheime und offne Gegner zugleich nicht fortsetzen will.