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Italienische Reisebilder : 2. Mailand.
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So wirkt AlleS zusammen, um die Galleria zum glanzvollen Mittelpunkt des öffentlichen Lebens zu machen: die massige Pracht des Baues und die leichte Schwungkraft des Verkehrs, emsiger Fleiß und vornehmer Müssiggang. In den Giebelfeldern stehen die Bilder der Welt, Europa, Asien u. s. w., aber der feste Grund, auf dem wir wandeln, aus dem dies Meisterstück emporstieg, ist das uralte Mailand; hier eint sich wie in keiner anderen Stadt Italiens der Bürgerstolz mit kosmopolitischem Geiste.

Im Corso und in der Galleria begegnet sich zumeist der gesellige Verkehr, wenn die strenge nach innen gekehrte Arbeit zu Ende ist und Alles athem­holend ins Freie eilt. Hier allein werden wir sofort in die italienische Welt versetzt, an die uns weder der Bau der Stadt, noch die Haltung der Bürger sonderlich gemahnt; nur die Gesellschaft ist jenes Zauberwort, welches das innere Wesen des Italieners mit plötzlicher Macht erweckt, und ihm Alles entlockt, was er an Geist, an Liebenswürdigkeit und Schönheit besitzt. Wer in Mailand nur die großen Comptoirs oder die Stätten geistiger Arbeit betritt, der wird ernste emsige Menschen finden, die fast mit nordischer Strenge ihre Pflichten üben; erst wenn wir des Abends auf den Corso kommen, wandelt sich das Bild, nun erst sind die Mailänder in vollem Sinne Italiener! Mit doppelter Raschheit fließt jetzt die Rede, in prächtigen Falten fällt den Frauen der Schleier über die Schulter, duftig und zart blinkt die helle Seide, in die man sich seit Ostern kleidet. Denn in der That, selbst in den Frauen lebt jener energische Geist, der an allen öffentlichen Dingen Antheil nimmt und Aleardt hat ihnen aus der Seele gesprochen mit seinem Gedicht Is äonne wilanesi all« äonns venesiani. Mailand war damals schon dem einigen Italien verbunden, aber Venedig schmachtete noch in fremder Hand; und mit lauten Jammerrufen klingt sein Lied. Der Grundton, der durch alles Leben in Mailand geht, ist modern; so reich auch die Erinnerungen an eine große Vergangenheit uns umgeben, die Kraft der Gegenwart bleibt doch allmächtig I

Selbst da, wo ihr vergangene Formen zum Ausdruck dienen, tritt sie uns siegreich entgegen. An der äsi Nei-ea-nti, aus deren geschlossenen

Räumen einst die drakonischen Gesetze des I^väest». verkündet wurden, hallt jetzt der Lärm der beweglichen Börse, und in den I^vMen, wo einst theolo­gischer Streit erklang, sitzt die Handelskammer zu Rathe. Und so alt auch die Stiftung des O^xeäalg NaAZiore ist, die großartige Entwicklung seines Zweckes, diese Gleichheit Aller, die der Kummer gleichgestellt, bleibt doch immer das geistige Eigenthum der Neuzeit. Man konnte solches ahnen in früheren Jahrhunderten, aber verwirklicht mit voller bewußter Freiheit hat es erst die Gegenwart.