Beitrag 
Friedrich Ratzel`s Wandertage eines Naturforschers.
Seite
477
Einzelbild herunterladen
 

477

einen höher organisirten Insassen schließen aber unser Schluß erweift sich eben als falsch und wir müssen das anerkennen, was der Thatbestand aus­weist. Durch die Poren des Gehäuses streckt nun das Thier Protoplasma­strahlen aus, um von irgend woher Nahrung zu erhalten. Die Verdauung dieser Nahrung kann natürlich nur dadurch geschehen, daß sie vom umgeben­dem Protoplasma umflossen und so lange zurückgehalten wird, bis die lös­lichen Bestandtheile assimilirt sind. Die Rhizopoden sind eine sehr interessante Thiergruppe. Sie sind vorzüglich dazu geeignet, uns die wunderbaren Eigen­schaften des Protoplasmas kennen zu lehren. Es ist von vornherein kaum zu glauben, daß ein so einfacher, unscheinbarer Schleim mit der Fähigkeit be­gabt ist. dergleichen eomplicirte Gehäuse hervorzubringen. Aber wir sehen's und müssen es in Folge dessen glauben. Es liegt eben als Thatsache vor unsern Augen.

Ratzel knüpft an die Beschreibung der Rhizopoden sehr interessante Reflexionen. Er stellt dem Nhizopodenplasma und seinen Eigenschaften die noch weit wunderbarere Entwickelungsfähigkeit der thierischen Eizelle gegen­über, die im Grunde auch nichts Anderes ist, als ein unscheinbares Proto- plasmaklümpchen. Aber mit welcher Fülle von Functionen ist dieses kleine, kaum 5/50 Millimeter große Klümpchen beladen! Es umschließt einen Thier­oder Menschenkörper im Keime und vermag, wenn es durch Befruchtung den Entwickelungsanstoß empfängt, diesen Keim in ein vollendetes Geschöpf zu verwandeln. Wie muß das, ruft Ratzel aus, was so trübe, so matt und so bedeutungslos erscheint, im Innern beschaffen sein, um ein hoch organi- sirtes Wesen in allen Theilen embryonal zu umschließen und um fähig zu sein, diesen condensirten Inhalt immer zu der Entfaltung zu bringen, welche die gesetzmäßige ist?

Derartige Aeußerungen zeigen sehr deutlich, daß Ratzel kein crasser Materialist ist. Es fällt ihm nicht ein, alle die Wunder, die sich dem Na­turbetrachter darbieten, als bloße, eomplicirte mechanische Vorgänge hinzu­stellen. Es fragt sich sehr, ob man überhaupt von einem Mechanismus der Entwicklung und von einem Mechanismus des Denkens so ganz ohne wei­teres reden darf. Ratzel ist von allen diesen Bedenken durchdrungen und maßt sich nicht an, das letzte Wort zu sprechen.

Dieselbe Bescheidenheit und Zurückhaltung beim Vortrage von mehr oder weniger hypothetischen Dingen zeigt sich durchweg in den Aufsätzen. Auch principielle Gegner der Descendenztheorie werden die Ratzel'sche Darstellungs­weise ansprechend finden. Besonders lesenswerth sind die Kapitel über den Polymorphismus der Thiercolonien, über das Ei und seine Entwickelung, über die Sackthiere (Ascidien), ferner die mehr schil-