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Die Reichstagswahlen.
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vor welche einfachen und bewegenden Gegensätze er bei der Wahl gestellt war? Diese Frage ist hinsichtlich der ultramontanen Verstärkung in den jüngsten Tagen in einleuchtendster Weise auf die eanonische Einfalt der Massen zurück­geführt worden. In Betreff der wenigen außersächsischen Wahlkreise, in denen Socialdemokraten gewählt wurden, wie in Altona und im Wupperthal, liegt das Resultat in dem Ueberwuchern einer fluctuirenden und pietätlosen Ar­beiterbevölkerung. Aber für das Königreich Sachsen ist die Frage mit diesen Antworten noch nicht erklärt. Hier liegen die Verhältnisse verwickelter und durchschnittlich noch weniger erfreulich. Es lohnt wohl der Mühe in einer besonderen Betrachtung auf diese Verhältnisse näher einzugehen. H. B.

Ariese aus der Kaiserstadt.

Berlin, 18. Januar 1874.

Zum dritten Male feiert heute das neue deutsche Reich seinen Geburtstag. Seltsam genug, daß gerade in der Hauptstadt kaum irgend ein Zeichen an den ewig denkwürdigen Act erinnert, der vor drei Jahren sich im Spiegelsaale des Versailler Schlosse vollzog. Vergebens durchblättern wir unsere großen Zeitungen, selbst die ministeriellen Organe feiern den Tag mit Schweigen; nur dieSpenersche Zeitung" macht eine Ausnahme. Vor einem Jahre prangte doch wenigstens noch auf den Ankündigungszetteln der Theater und Vergnügungsloeale die Ueberschrift:Zur Feier des Jahrestages der Errich­tung des deutschen Reichs," heute scheinen fie's vergessen zu haben. In den Straßen fehlt der Flaggenschmuck kurz, es ist ein Sonntag, so langweilig, so bedeutungslos, wie alle andern Berliner Sonntage.

So nüchtern, so baar der politischen Begeisterungsfähigkeit ist das Ge­schlecht unserer Bevölkerung der Hauptstadt. Ohne Zweifel ist diese proviso­rische Stimmung der praktischen Aufgaben unseres jungen nationalen Staats­lebens fördersamer. als die träumerisch-idealistische Schwärmerei der Vergan­genheit. Dennoch werden wir den patriotischen Enthusiasmus wieder zu et­was höherer Temperatur anfachen müssen, wenn bet uns die staatsbürgerlichen Pflichten in demjenigen Maße erfüllt werden sollen, welches allein eines freien und mündigen Volkes würdig ist. Das gilt zunächst und in ganz be­sonderem Grade von Berlin; die diesmaligen Reichstagswahlen haben uns darüber sehr unsanft die Augen geöffnet. Wenn dieStadt der Intelligenz" eine Wahlbetheiligung von kaum 30°/« auszuweisen hat, so ist das keine Thatsache, über welche man mit einem Achselzucken hinweggehen kann, son­dern ein Zustand, welcher der gesammten männlichen Bevölkerung Berlins