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Ein englisches Urtheil über die Competenz des deutschen Reichs gegenüber den Einzelstaaten.
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betrügt, hat wenig Grund sich genau darum zu bekümmern, welche Strafen dem Verbrecher drohen, aber er hat das größte Interesse das bürgerliche Ge­setz des Staates zu kennen, in welchem er lebt, und derjenigen benachbarten Staaten, mit denen er in nahem Verkehr steht. Dies muß um so mehr der Fall sein, wenn die Staatengruppe, der sein Land angehört, eine Anzahl kleiner Territorien umfaßt mit schlecht regulirten Grenzen und einer Reich­haltigkeit verschiedener Gesetzgebungen, die selbst den Statuten liebenden Justinian hätte erschrecken können. Zu diesem mächtigen Beweggrunde kam noch die ängstliche Fürsorge aller Patrioten, das Reich fest zusammen zu schweißen und es so bereit zu machen für die bevorstehenden und wahrschein­lich ernsten Phasen des kirchlichen Conflictes. Wie Frankreich durch den un­vorsichtigen Angriff den Grund zur deutschen Einheit legte, so hat der Va- ticcm, der nach der Niederlage von Frankreich den Kampf fortsetzte, alles, was er konnte, gethan, um die Einrichtungen von 1870 zu befestigen und zu ent­wickeln. Da solche mächtige Triebfedern das Volk vorwärts drängten, mußte selbst die am wenigsten nachgiebige Regierung sehen, daß es unweise und un- conservativ gewesen wäre, einen so starken, so natürlichen und so gerechtfertigten Wunsch abzuschlagen.

Wenn ein reiches und cultivirtes Volk zwei große Kriege für seine Existenz geführt hat und neue Schwierigkeiten in Aussicht stehen, so ist die öffentliche Meinung eine bedeutende Macht und darf nicht zu lange mit ihren billigen Forderungen hingehalten werden, namentlich wenn sie die stärkste der Regierungen und die liberalen unter den Fürsten auf ihrer Seite hat. Diese Erwägungen griffen um sich und die oben erwähnte Abstimmung war das Resultat.

Wenn die Thatsache, daß die kleineren Fürsten einer solchen Verkürzung der Rechte der Einzelstaaten zustimmten, schon in sich ein genügender Beweis von dem wachsenden Einfluß der Centralbehörden ist, so ist das Verhalten einiger dieser Fürsten in den letzten Stadien der Sache eine eigenthümliche Illustration für dieselbe gewichtige Wahrheit. Sie werden sich erinnern, daß seit der Entstehung des Reichs die Frage nicht ohne eine gewisse Erregung von den Ministern und Parlamenten dieses Landes erwogen wurde, welches Verfahren zur Ausdehnung der Reichscompetenz, falls eine solche geschehen solle, beobachtet werden müsse. Kann die Kompetenz der Centralregierung erweitert werden durch bloßen Beschluß des Reichstags mit Zustimmung des Bundesraths? Oder ist in jedem derartigen Falle die Zu­stimmung der Einzellandtage und der Fürsten unerläßlich? Das Problem war ein ernstes und die Ausbildung der bestehenden Einrich­tungen von der Antwort abhängig.