437
Begründungen wurden nicht geliefert, höchstens brachte letzterer als Stützen weitgehende Auslegungen und Entstellungen herbei. An diesen hielt er dann ohne weiteres mit dem Fanatismus eines eingebildeten Propheten fest. Und so steht die Lehre vom Bekenntniß der niederhessischen Kirche, welche nun vorwiegend auf Vilmar zurückgeführt zu werden pflegte, an Bodenlofigkeit der Erfindung der Lehre Joö Smith's gleich. Die Mormonen sind jedoch insofern besser daran, als ihre Lehre gleich codificirt vom Himmel siel. Solches ging jedoch in Hessen nicht gut. Man ist daher genöthigt, die Einzelnheiten von Mlmar's Lehre aus seinen Reden und Schriften zusammenzusuchen. Bis jetzt hat niemand die Mühe angewandt, die einzelnen Körner dieser Lehre zu einem heiligen Buche zusammenzustellen, sie lebt daher nur als Tradition im Kreise seiner Anhänger. Zu einer gewissen Befestigung derselben trug der Umstand das Meiste bei, daß Vilmar grade um jene Zeit, 1850, von seinem Freunde Hassenpflug als vortragender Rath im Ministerium des Innern an die Spitze der Kirchen- und Schul-Angelegenheiten gestellt wurde. Das Bekennen zu jener Lehre wurde Empfehlung, ja thatsächlich Bedingung für die Anstellung in jenen Fächern. Entsprechende Verfügungen thaten das ihrige. In einem Ausschreiben vom 20. Dee. 1851 machte Vilmar als Verweser der General-Superintendentur die Pfarrer der Diöcese Kassel u. A. darauf aufmerksam, daß die Handauflegung der eigentliche Mittelpunkt und Zweck der Confirmation sei. Am S. März 1834 verfügte das Ministerium, der Heidelberger Katechismus habe nicht als Bekenntnißschrift der reformirten Gemeinden zu gelten u. s. w.
Versuchen, die neue Lehre zu bekämpfen, wurde von Vilmar mit Heftigkeit entgegengetreten. Eine geistliche Conferenz wagte am 22. Juli 1852, eine Fassung des Bekenntnisses festzustellen, welche wenigstens zur Erhaltung des kirchlichen Friedens dienen sollte; allein Mlmar's „Volksfreund", nun redigirt vom Gymnasiallehrer Piderit, eiferte dagegen mit Schmähungen und Entstellungen; er suchte glauben zu machen, die Reformirten strebten die Union an, sagte: Hessen ist lutherisch, und das so recht aus tiefster hessischer Brust heraus und drohte, die Friedlichen wolle man schon zum Schweigen bringen.
So kam es, daß eine an Vilmar, seinen „Volksfreund" und den hessischen Missionsverein sich anlehnende kirchliche Partei in Hessen entstand, deren Ziel der auf geschilderte Art unter protestantischer Firma in die Kirche einschletchende Hierarchismus war. Der wesentlichste Punkt der Vilmar'schen Lehre oder Richtung besteht daher in demselben Grundgedanken, von welchem die seit geraumer Zeit die katholische Kirche beherrschende und gegenwärtig mit den Staatsgewalten hierüber in heftigstem Streit liegende Partei ausgeht: dem Gedanken der absoluten Selbständigkeit der Kirche und folgeweise ihrer
Grenzboten IV. 1873. dü