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Geschichte der Französischen Literatur seit Ludwig XVI. 1774 von Julian Schmidt.
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Stimmungen, den abenteuerlichsten Ideen freien Spielraum, Die socialistischen Systeme, die meist in den schroffsten Dogmatismus ausliefen, nehmen doch auch ihren Ausgang von der Kritik, und merkwürdig ist es, daß wir immer den größten unter den französischen Geschichtsschreibern jener glänzenden Pe­riode, Augustin Thierry, eine Zeitlang als Anhänger des Grafen St. Simon finden.

Es ist nun von höchstem Interesse, im Einzelnen zu verfolgen, wie bald von einem Ausgangspunkt verschiedene Aeste sich abzweigen, kräftig aufwach­sen, frisch entwickeln, und dann wieder zusammenlaufen, um sich bald wieder zu trennen. Es ist ein farbenreiches, lebensvolles Bild, welches sich vor un­sern Augen entfaltet. Nach allen Richtungen sind die geistigen Kräfte des Volkes gespannt; die Romantik in den verschiedensten Formen, von entgegen­gesetzten Ideen getragen, entfaltet ihre schönsten Blüten; aber leider um nach einer kurzen Zeit des Glanzes sich den wildesten Ausschweifungen einer krank­haften Phantasie hinzugeben und in der ungesunden Atmosphäre des sittlich und ästhetisch Häßlichen ihre besten Kräfte zu verschwenden. In den letzten Jahren der Restauration stand ihr gefeiertstes Haupt, Victor Hugo, aus seinem Höhepunkte; Alexander Dumas, dessen außerordentliches Talent von vornherein durch eine eben so große Frivolität in falsche Bahnen getrieben wurde, sing an, die Bühne zu beherrschen. Aber auch Victor Hugo hatte Bahnen eingeschlagen, die ihm mannichfache Metamorphosen, aber keine nor­male Entwickelung zu höheren Zielen, zu einer Läuterung seiner Kunstform und einer Vertiefung seiner dichterischen Individualität gestatteten. Daß in seinen Erstlingswerken der Kultus des Ungeheuerlichen sich üppig entfaltete, war vielleicht an sich nicht bedenklich; auch die Ueberschwenglichkeit seiner einstigen royalistischen Begeisterung mochte dem jungen Dichter hingehen. Aber verhängnißvoll war es, daß er in dieser Richtung fortdauernd während seiner ganzen Laufbahn verharrte, daß er in jeder regel- und zügellosen Laune eine neue und höhere Manifestation seines poetischen Genius erblickte. Victor Hugo wollte Realist sein, er wollte historische Dramen, historische Romane schaffen, und das historische Costüm weiß er allerdings wiederzugeben, nicht aber den Gesammtcharakter der Zeit, die er versinnlichen will. Es sind fast immer durchaus abnorme Erscheinungen, die er uns vorführt, wodurch auch das Zeitgemälde bei aller Treue im Einzelnen, meist zum Zerrbilde wird. Alle außerordentlichen Vorzüge seiner Technik wurden, wie unser Verfasser sagt, aufgewogen durch einen Mangel, den keine Technik zu ersetzen vermag, durch den Mangel einer unbefangenen Lebensanschauung und eines poetischen Gewissens. Victor Hugo schöpft seine angeblichen historischen Voraussetzungen rein aus der Phantasie.Was seine Figuren denken, reden und thun, muß