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Wilhelm Jensen.
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gern anerkennen, auch die neuesten Schöpfungen Jensen's getragen sind, doch wesentlich Eintrag thut, und den Leser, der die herzerfreuenden früheren Er­zeugnisse der Jensen'schen Muse kennt, nur mit getheilter Empfindung ent­lassen wird. Jene früheren Arbeiten des Dichters haben zur Genüge bewiesen, daß er vollständig über die Mittel gebietet, uns anzuregen, zu fesseln und zu befriedigen, ohne jeden Appell an den Kitzel der Sinne. Warum nun diese Concession an den verderbten unreinen Geschmack unserer Tage? Hat nicht Jensen so kräftig wie irgend einer im deutschen Vaterlande in seinenLiedern aus Frankreich", auf die wir unten zu sprechen kommen, den raschen Verderb des Feindes zurückgeführt auf die geringere sittliche Tüchtigkeit? Warum nun dem mesquinen Geschmack der Franzosen in deutscher Sprache folgen? Ja, wenn dabei noch ein poetischer, ein sittlicher Zweck verfolgt würde! Niemand wird leugnen, daß Byron's wildeste Dichtungen immerhin poetisch waren, weil sie dem berechtigten Realismus der menschlichen Natur formenschön be­redten Ausdruck geben; niemand wird ihnen die ethische Berechtigung ab­sprechen gegenüber der heuchlerischen Prüderie des englischen KM-lits jener Tage. Aber warum wird uns Deutschen der Gegenwart dieses prickelnde Ge­richt servirt? Wenn irgend wer, so meinen es diese Blätter gut mit dem Dichter. Sie geben ihm daher den Rath des Freundes, zurückzukehren in seine solid bürgerliche Haltung von ehedem. Die starke Seite der Heyse'schen Novellen besteht nicht darin, daß sie jeden Vater, der sie gelesen, sofort zu dem Entschluß führen werden, sie auf den inclex librorum xrolnditorum seiner Tochter zu setzen. Es ist nicht ein Zeichen fortschreitender poetischer Kraft, wenn der Dichter zu sinnlichen Bildern greift, die ans zweideutige streifen.

Das Behagen an bedenklichem Materialismus findet sich in Jensen's Dichtungen nirgend kräftiger ausgeprägt, freilich auch nirgend besser motivirt, aus sachlichen und poetischen Gründen, als imEddystone"*). Wer in der edeln Geographie sattsam beschlagen ist, kennt den Eddystone als stürm- und fluthenumtobten Felsen, einige Miles im Südosten von Cornwall, vor der Südwestspitze der englischen Küste. Wiederholt hat auf diesem Gestein mensch­liche Kunst versucht, der gefährdeten Schifffahrt einen Leuchtthurm aufzurichten, der auch in den dunkelsten Nächten und bei der höchsten Sturmfluth den See­fahrern sein warnend Licht gäbe vor der höllischen Brandung; aber immer haben ihn die Wellen weggespült. Ein solches Bauwerk, das kühnste, das Menschenkunst bis dahin an dieser Stelle errichtet, wölbte sich am 27. No­vember 1703 über dem Eddystone. Der Meister, der es gebaut, diejenigen nicht minder, welche das freudige Licht fortan unterhalten sollen über den nächtlichen Wogen, zugleich mit den kecken Dirnen ihrer Wahl, halten in

"> Berlin, Gebr. Pätel, 1872.