19
Aichard Wrschmann.
Es war im Beginn des vergangenen Jahres, als von Königsberg herüber nach Berlin die Kunde drang und das Interesse der gebildeten Kreise erregte, daß dort ein Künstler aufgetreten sei, der mit wunderbarer Macht des Geistes und Talents den Meisterwerken der dramatischen Dichtung eine Auferstehung bereite,
und zwar in Recitationen, die er frei aus Gedächtnisse gebe. Mit bei der Fülle neuer Erscheinungen erklärlichem Zweifel empfing man Türschmann in Berlin; doch schon die ersten Vorträge während des Frühjahrs wandelten ihm die Zweifler in Freunde und seine Wiederkehr zur Winterszeit begrüßte das freudige Entgegenkommen des voll erkannten Werthes und dauernden Interesses.
Auch die anfänglich gegen die Kunstgattung erhobenen Bedenken verstummten bald. — Jmmermann äußert bei Besprechung der von ihm 1832 in Düsseldorf gegebenen Vorlesungen dramatischer Dichtungen, die Recitation verhalte sich zur Darstellung wie ein gutes Spiel auf dem Flügel zur vollen Instrumentalmusik und könne nur in Zeiten Anklang finden, denen die Partitur verloren sei. An anderer Stelle schreibt er: „Zweierlei ist an dem Verfall des deutschen Theaters Schuld, erstens, daß es sich außer Contakt mit der Literatur und dem Jdeenkreise des Kerns der Nation gesetzt hat, zweitens daß die Darstellung selbst allen Begriff der Schule und der Kunst verlor und die Idee von der Nothwendigkeit eines bis in das Kleinste harmonischen Ganzen kaum noch in der abgeschwächtesten Erinnerung kennt."
Sollte nicht dieser Satz noch heute gelten, nicht auch unserer Zeit bezüglich der theatralischen Darstellung die Partitur verloren sein?
Türschmann's Kunst ist eine eigenartige; sie gewinnt an Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, wie er sie erworben hat. Trotz seiner schon auf dem Gymnasium offenkundigen Begabung hat er — wir dürfen hier Lichtenberg's Ausspruch über Garrick anwenden — „nicht auf Offenbarungen gepaßt, sondern studirt" und der Ruhm, den er jetzt erntet, ist ihm nicht geschenkt worden, sondern durch ernste Arbeit verdient.
Türschmann ist der Sohn eines sächsischen Landgeistlichen. Der musikalisch begabte und gebildete Vater regte durch seinen Musikunterricht zuerst das Kunstinteresse im Sohne an und während dessen malerischer Sinn an der landschaftlichen Anmuth des unmittelbar an der Mulde gelegenen Psarrdörfchens sich bildete, erhielt seine Einbildungskraft vielfache Befruchtung im Verkehr mit der phantasiebegabten Mutter. Seine gelehrte Vorbildung verdankt er der altberühmten Thomasschule zu Leipzig. Unter dem Rectorat Professor Stallbaum's wirkte zu jener Zeit eine Anzahl bedeutender Männer an ihr, von welchen wegen ihres unmittelbaren Einflusses auf Türschmann's Ent-