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Unpolitische Briefe aus Berlin : die Kunstausstellung.
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Christus, umgeben von drei Aposteln: zur Rechten Christi der jugendliche Johannes im kindlichen Glauben, als ob liebevolles Zudringen das Schicksal noch abwenden könne, zur Linken Christi ein älterer Apostel mit der Innig­keit überströmender Hingebung, aber ohne Ausdruck von Hoffnung den Meister beschwörend; neben diesem stehenden Apostel ein anderer sitzend, voll Theil­nahme den Worten des Johannes lauschend, in tiefer Bewegung, ebenfalls ohne den Ausdruck der Hoffnung. Die dritte Gruppe gegenüber der Rechten des Beschauers besteht aus vier Gestalten: aus dem hinausschleichenden Ver­räther und aus einem Apostel, der jenem betroffen nachblickt; von den beiden anderen Gestalten der Gruppe ist die eine in wilden Schmerz versunken, aus dem die andere sie emporzurichten sucht.

Wenn Leonardo da Vinci das jugendliche Alter in vier Gestalten, das Mannesalter in ebensoviel, das Greisenalter in fünf Figuren mit höchst ver­schiedenartigen Typen characterisirt hat, so finden wir hier bis auf zwei eini­germaßen greisenartig characterisirte Gestalten nur Physiognomien des mitt­leren Lebensalters. Wenn bei Leonardo vier Gruppen, jede zugleich unter sich lebendig verbunden und ebenso lebendig auf die Hauptgruppe bezogen sind, so sind hier alle Figuren entweder auf den Mittelpunct, oder, von der äußeren Scene abgewendet, nur auf ihren inneren Schmerz bezogen, mit Ausnahme des Judas und des ihm nachblickenden Apostels. Kein Glanz der Gewänder, keine Schönheit der Gestalten und Physiognomien, keine Gegensätze interessanter Characteristik. In Allen mit Ausnahme Christi und des Verräthers derselbe Menschentypus, unterschieden nur durch den Grad und die zufällige Beziehung der Bewegung des Momentes. Die Wirkung und das Verdienst des Ge­mäldes liegt in der Macht seiner Grundstimmung, im dauernden Verhältniß dieser Apostel zu ihrem Meister, welches durch die furchtbare Verkündigung der Stunde nur auf eine bestimmte Art zum Vorschein kommt, aber nicht ver­ändert wird.

Man erzählt von Leonardo da Vinci, daß er nach Ißjähriger Arbeit an seinem Abendmahl die Gestalten Christi und des Verräthers nicht so, wie er gewollt, habe vollenden können.

An diesen beiden Gestalten scheitert auch unser Bild, dessen Eindruck un­vergleichlich wäre, wenn der Urheber anstatt des in Form und Miene durch­aus edel, aber in dem typischen Ausdruck permanenter Resignation gehaltenen Christus uns den Originalkopf des sittlichen Genius geschaffen hätte, der der als unvermeidlich erkannten Katastrophe mit dem Enthusiasmus der Selbst­opferung entgegengeht mit dem Schmerz des Losgerissenseins von einem ge­liebten Dasein, der sich in das Glück der größten Pflichterfüllung verwandelt.

Und nun der Verräther. Es ist das classische Gründergesicht der heutigen Zeit. Wir könnten uns wohl dcnkcn, daß dieser Judas unter die Jünger