Man kann nun keineswegs behaupten, daß das neue Drama bei der Schilderung dieser Zustände durchweg unsittliche Tendenzen verfolgt, es erhebt nur den Anspruch, die Menschen und Dinge gerade so zu schildern, wie sie/ sind, oft mit der Absicht, die Zeit durch Vorhalten ihres Spiegelbildes zu bessern. Aber mit Recht ruft Rutenberg den Realistikern zu: „Bedenket, daß, wenn ihr die scharfen Messer eurer Kritik an den lebendigen' Körper eurer eignen Zeit ansetzt, die Gefahr unvermeidlich ist, zu tief in das Fleisch der Seele zu schneiden und, statt sie von ihren krankhaften Auswüchsen zu befreien, den geistigen Nerv, der zuweilen in der Form der Krankheit zur Erscheinung kommt, für immer zu ertödten." Vor Allem aber ist zu bedenken, daß die Wirkung, welche die modernen Dramatiker erreichen, keineswegs die ist, in dem Zuschauer den Abscheu hervorzurufen, sondern gerade ihn in der Atmosphäre dieser Zustände heimisch zu machen, sodaß er sie als eine Thatsache hinnimmt, mit der ein kluger und solider Mann sich so gut als möglich abzufinden sucht. Vermag der Dichter nicht in den Verhältnissen, die er schildert, ein ideales Element aufzufinden, hat er die Kraft verloren, ein solches in sie hineinzulegen, wie soll er sein Publieum aus dem Sumpf erheben? Ist das Drama Nichts als ein genaues Spiegelbild, ein photographischer Abdruck des wirklichen Lebens, so verzichtet es von vornherein darauf, erhebend auf das Leben einzuwirken. Es hört auf, die Leidenschaften zu läutern , ja es verliert mehr und mehr die Kraft, sie nur darzustellen, den Kampf der Interessen zum tragischen Conflict zu steigern. Mit Recht beklagt Rutenberg, daß man im französischen Drama der Neuzeit den wahren, natürlichen Ausdruck der Leidenschaft nur ganz vereinzelt findet. Es fehlt den Personen die Kraft einer tiefen Empfindung, es fehlen ihnen darum auch die wahren „Naturlaute der Leidenschaft", die unwiderstehlich die conventio- nelle Form durchbrechen. Daher denn auch die von unserm Verfasser besonders hervorgehobene Unfruchtbarkeit in der Erfindung, die Einförmigkeit im Zerhauen des Knotens. Ein intendirtes oder ausgeführtes Duell, verabredet nach allen Regeln der Kunst, vertritt (wie der Verfasser vortrefflich an einem Beispiele ausführt) die Stelle des veus ex maelüug.; selbst wenn der beleidigte Ehemann mit Mordgedanken umgeht, vergißt er nicht, was ihm eo<I» gestattet, was verbietet. An kunstvoller Verwickelung, gewandter Entwirrung, Feinheit der Intrigue können sich die neuen Stücke den Scribe'schen nicht an die Seite stellen. Darin würde man nun in der That in gewissein Sinne eine Art von Fortschritt erkennen können, wenn nur an die Stelle des verschlungenen Mechanismus, in dem der Zufall die entscheidende Rolle spielt, eine tiefe psychologische Motivirung getreten wäre. Allerdings ist bei einigen der bedeutenden Dramatiker dies Streben nach Psychologischer Moti« virung denn auch vorhanden. Aber so trefflich es die Verfasser verstehen, der
Contribution
Zur Charakteristik des neuesten französischen Dramas : Adolf Rutenberg, die dramatischen Dichter des zweiten Kaiserreiches.
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