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Bis jetzt hat die liberale Partei in der II. Kammer diese Probe ziemlich glücklich bestanden. Sie ist im Nothwendigen fest, in minder wesentlichen Dingen nachgiebig gewesen, sie hat die von ihr durchberathenen Regierungsvorlagen in wichtigen Punkten verbessert, ohne daß doch die Regierung oder I. Kammer sie nach dieser Umgestaltung mit Recht für unannehmbar erklären könnten. Die Hauptprobe freilich steht ihr noch bevor: das Vereinigungsverfahren mit der I. Kammer. D enn das sächsische Herrenhaus wird leider fast mit Gewißheit an dem Volksschulgesetz, an der Gemeindeordnung und die übrigen von der liberalen Partei unmöglich aufzugebenden Aenderungs- anträge verwerfen, und damit diese Gesetzentwürfe in die ursprüngliche oder eine gar noch ungenügendere Form zurückbilden wollen. Dann erst wird man sehen, ob es wirklich eine compacte liberale Partei in der II. Kammer gibt, oder nur eine Anzahl ganz und halb Liberaler, von denen die Einen Stand halten, die Andern zurückweichen oder ins Schwanken gerathen. Dann erst wird sich die Einsicht, die -Energie, die moralische Macht der Führer über das Gros der Partei bewähren müssen.
Wir wollen hoffen, daß die liberale Partei diese Probe nicht unrühmlich bestehen werde. Denn viel ist schon dadurch gegen früher gewonnen, daß die Partei diesmal vom Anbeginn an als einige, statt als dreitheilige aufgetreten ist. Die einzelnen bis dahin getrennten Fractionen haben mit lobenswerther Selbstverleugnung ihrer Sonderstellung entsagt, um ein einziges compactes Ganzes zu bilden. Die „Fusion" soll nicht ohne vorherige ziemlich entschiedene Auseinandersetzung von Statten gegangen sein, wie ja auch chemische Verschmelzungsprocesse häufig nur nach vorausgegangenen Explosionen und Verdichtungen sich vollziehen. Aber einmal zu Stande gekommen, hat sie bis jetzt auch Stand gehalten, und von einem Wiederhervortreten der früheren trennenden Schranken, vollends von gegenseitigen Reibungen der einzelnen Theilparteien hat sich keine Spur gezeigt.
Die in diesen Tagen eintretende Vertagung, welche die Arbeiten der Kammern auf viele Monate, wahrscheinlich bis zum November, unterbricht, ist für die liberale Partei nicht ungünstig. Der Einfluß eines länger andauernden Aufenthaltes in der Residenz hat sich immer als gefährlich für manche Charaktere oder vielmehr Halbcharaktere erwiesen. Jetzt werden die einzelnen Abgeordneten aus der beengenden Hofluft der Salons und Cercles wieder in frischeren Zug der allgemeinen Atmosphäre des Volkes hinaustreten, wieder in persönliche Berührung mit ihren Wählern kommen. Sie werden direct und durch keinen anderen Eindruck abgeschwächt deren Wünsche und Ansichten hören. Und sie werden daher bei ihrem Wiederzusammentritt im Winter muthmaßlich unter dem unmittelbaren, noch nicht abgeschwächten Ein- Grenzbotm II. 1872. 20