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Die kirchlichen Aufgaben der deutschen Gegenwart : akademische Festrede, gehalten am 18. Januar 1872 im Namen der Albertus-Universität zu Königsberg.
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Richtungen sich vereinigen können. Wir sehen wie das officielle Kirchenregi­ment in Preußen für bestimmte mittlere Richtungen der dogmatischen Schul­theologie Propaganda macht und mit seinen schwächlichen Experimenten immer weniger die kirchlichen Geister zusammenzuhalten im Standeist: ja in Vereinen, in Versammlungen fast mit osficieller Färbung strebt es ohne Erfolg, der gegenseitigen Entfremdung, der wachsenden Verwirrung ein Ende zu machen und alles was für orthodox oder positiv christlich gelten will, um seine Fahne zu sammeln. Wir sehen daneben andere protestantische Vereine und Ver­sammlungen die Analogie sonst erprobter politischer Agitationsmittel auf das kirchliche Gebiet verpflanzen, offen gegen jeden Symbolzwang oder was ihm ähnlich sieht anstreben, und so einer ziemlich freien und ungebundenen Kirchen­bildung die Bahn eröffnen.

Alle diese verschiedenartigen Bemühungen haben bis heute noch nicht zu einem Resultate geführt. Keine dieser Strebungen hat einen offenkundigen Sieg davongetragen, keine ist bis jetzt in erheblichem Grade kampfunfähig ge­worden. Noch wogt die Schlacht unentschieden zwischen den kirchlichen Parteien. Aber auch auf protestantischer Seite bringt die factische Lage der kirchlichen Verfassung, bringt das mannigfach verschlungene Verhältniß staatlicher und kirchlicher Rechte und Pflichten und Functionen mit sich, daß von den kirch­lichen Fragen und Gegensätzen das politische Leben berührt wird. Es ist heute nicht denkbar, daß der Politiker in Deutschland die Betrachtung und Erwägung der protestantischen Bewegung von sich abweise.

Eine Thatsache drängt sich uns aber in diesem Zusammenhange noch mit ganz massiver Schwere entgegen. Das ist die ganz außerordentlich wachsende Entfremdung ganzer großer Bruchtheile des Volkes von der Kirche; und gerade in den gebildeten Ständen wird die Feindschaft oder die Indiffe­renz gegen das heutige Kirchenthum immer häusiger und immer allgemeiner. Ich lehne ausdrücklich ab, die Motive dieser Erscheinung hier zu untersuchen oder zu discutiren: ich spreche nur diese Thatsache aus, die ganz allgemein als solche zugegeben wird. Aber ich setze hinzu: diese Entfremdung von den heutigen Kirchen ist nicht gleichmachten einem religiösen Bankerotte unseres Volkes; oder wie es einer der tüchtigsten theologischen Lehrer unserer preu­ßischen Hochschulen auf jener sogenannten kirchlichen Octoberversammlung aus-, gedrückt hat, unser Volk im Ganzen und Großen ist nicht entchristlicht, aber entkirchlicht.

Fast von allen Seiten wird nun heute ein und dasselbe als Heilmittel für die vorhandenen kirchlichen Zustände empfohlen. Ultramontane Katholiken und orthodoxe Protestanten, streng conservative Lutheraner und liberale Pro- testantenvereinler, eifrige Jünger exclusiven Kirchenthums und kirchlich indif­ferente Männer: alle fordern heute die vollständige, gründliche und entschiedene