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Ueberblicke sich vergegenwärtigt, wird einer merkwürdigen Wahrnehmung sich nicht verschließen können. Schon wiederholt haben die factischen Zustände der Kirche, in denen das religiöse Sein und Fühlen der Menschen doch zunächst seinen Ausdruck sucht, dem idealen Gedanken der Religion und Kirche in schroffster Weise widersprochen; schon wiederholt ist ein Zustand eingetreten, daß in den gegebenen Formen der vorhandenen Kirche alles religiöse Leben völlig erstarrt war. Jedesmal aber ist an irgend einer Stelle dann das religiöse Gefühl aufs neue belebt worden: irgendwo entspringt wieder ein Strom wahren religiösen Gefühls, warmer und echter Religiösität; er ergreift die erstarrten Theile und Glieder und Institutionen der Kirche: im Inneren ihres Lebens auf hergebrachtem Boden aus ihrem eigenen Princip heraus erneuert sich die Kirche durch diesen Impuls frischer ursprünglicher Religiösität. Einen derartigen Prozeß hat die Kirche des Mittelalters schon zu wiederholten Malen durchgemacht.
Wir erinnern hier an jene mönchische Begeisterung, jene strengere Zucht und kirchliche Disciplin, die von Kloster Cluny aus im 11. Jahrhundert ganz Europa ergriffen, zur Erhöhung der Papstmacht und zur Bewegung der Kreuzzüge die Wege gebahnt hat. Wir erinnern an die ähnliche Strömung, die im 13. Jahrhundert zur Stiftung der Dominicaner und Franziscaner, zur Einsetzung der Inquisition geführt, gleichzeitig aber auch die Blüthen der scholastischen Dogmatik getrieben hat.
Das sind Tendenzen, die das Princip der allgemeinen Kirche sehr fest behauptet und gerade auf dem Boden strenger Kirchlichkeit ihren Charakter entfaltet. Nur zeigt das 13. Jahrhundert auch schon anders geartete Richtungen. Zugleich mit jener kirchlich-katholischen Gluth brachte Südfrankreich auch die Waldenser hervor; jedoch noch einmal überwand die Kirche die Abweichungen und pflanzte siegreich ihr Princip als das allein geltende wieder auf.
Dann aber ist die siegreiche Kirche selbst in einer Weise und in einem Umfange verfallen, wie es weder jemals vorher noch nachher dagewesen ist. Die religiöse Basis war dieser Kirche des 14. und IS. Jahrhunderts fast vollständig zertrümmert.
Die theologische Wissenschaft hatte unter der Herrschaft der nominalistischen Scholastik das wahre religiöse Gefühl, den wahren sittlichen Ernst fast ganz verloren. Während man auf Seiten des officiellen Kirchenregiments die Dogmen ins Ungeheuerliche gesteigert und verbildet hatte, waren gerade durch die BeHandlungsweise der Scholastiker, der officiellen Kirchenphilosophen, die bedenklichsten Zweifel groß gezogen worden, Zweifel, welche die Fundamente des Kirchenglaubens in Frage stellten und ernstlich zu erschüttern drohten. Die Masse der gebildeten Laien hatte dem officiellen Kirchenthum den Rücken ge-