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und höchsten Ständen begegnet, sich bei den romanischen Völkern durchgängig in der guten bürgerlichen Gesellschaft vorfindet, und daß diejenige Artigkeit und Höflichkeit, welche in Deutschland der guten Mittelklasse eigen zu sein pflegt, sich bei den Romanen bis in die untersten Volksklassen zu erstrecken pflegt. Daß dieses auch bei geringerer geistiger Ausbildung der Fall sein kann, bedarf kaum eines Beweises. Hat es doch schon manchen unwissenden Hofmann gegeben, der trotzdem in feiner Lebensart als Modell gelten konnte, und dem gerade feine gesellschaftliche Bildung das Mittel gewährte, seinen Mangel an wissenschaftlicher Bildung zu verdecken.
Wollen wir aber in Zukunft den ersten Rang einnehmen unter den gebildeten Völkern, so sollten wir nicht zugeben, daß andere Nationen, denen wir in den bedeutendsten Eigenschaften uns überlegen fühlen, uns ihrerseits in minder bedeutenden, aber dennoch äußerlich bestechenden Zügen übertreffen. Wir sollten ein offenes Auge für unsre derartigen Mängel haben und uns bestreben, sie zu verbessern, selbst auch wenn es der Feind ist, von dem wir dabei zu lernen haben. Die Bedeutung, welche man in südlichen Ländern diesem Zweige der Erziehung beilegt, zeigt sich z. B. darin, daß die Unterweisung in Artigkeit und guter Lebensart als Wissenschaft in ein System gebracht und auf jedem besseren Colleg in regelmäßigen Lehrstunden meistens zweimal wöchentlich vorgetragen wird. Man benutzt dabei Lehrbücher, welche mit großer Sorgfalt zusammengestellt sind, und denen man Unrecht thun würde, wenn man ihnen keinen höheren Rang als den unserer „Complimentirbücher" anweisen wollte. Sie verbinden das, was uns Knigge im „Umgange mit Menschen," Lord Chesterfield in den „Briefen an seinen Sohn" lehren, mit den hier mehr ins Einzelne gehenden Unterweisungen in den Gebräuchen der guten Gesellschaft und namentlich in der Bezeichnung alles dessen, was als gemein und unpassend vermieden werden muß. Ein solcher „Sitten-Codex der guten Gesellschaft" von Manuel Diez de Bonilla, der mir gerade vorliegt, beschäftigt sich in der Einleitung mit Zurückführung der guten Lebensart auf die allgemeinen Grundsätze der Sittenlehre. Dann folgt der Inhalt in folgender Form:
Erstes Buch. Allgemeine Höflichkeit. I. Unpassendes Benehmen gegen Andere und Begründung der Verbote (36 Seiten). II. Verstöße gegen das, was wir uns selbst überall schulden (24 Seiten). III. Allgemeine Regeln gebildeter Leute beim Essen (24 Seiten). IV. Vorschriften betreffs der Reinlichkeit, Körperhaltung, Kleidung. V, Ueber öffentliche Reden und sonstige Vorträge. VI. Gesetze der guten Lebensart im geselligen Verkehr.
Zweites Buch. Handelt von den Gesetzen der Artigkeit in besonderen Verhältnissen, gegen die Mitglieder der Familie, gegen Freunde, Vorgesetzte, Unter-