511
lerische Wiedergeburt hellenischer Art und Kunst ihnen (Goethe'n und Schiller'n) gelang. Vor Allem „Jphigenie", „Tasso", die „Römischen Elegieen", „Hermann und Dorothea" und die gleichzeitigen kleinern Idyllen Goethe's sind die unvergänglichen Denkmale dieses gewaltigen Strebens. Wie bei den Bauwerken, Statuen und Gemälden der großen Italiener des sechszehnten Jahrhunderts, so ist auch hier die einfache Reinheit und Großheit der alten Kunst höchstes Muster und wird, weil die Gesinnung und Denkart mit der Gesinnung und Denkart des Alterthums im tiefsten Grunde verwandt ist, mit glücklicher Genialität nachgebildet und erreicht; aber hier wie dort bleibt das Heimische und Eigenartige, das Recht und der lebendige Herzschlag der Gegenwart gewahrt und führt zu den reizvollsten Erfindungen. Es ist Renaissance im höchsten und schönsten Sinn. Wer hier von willkürlichem und gewaltsamem Abfall von der Macht und Frische des Volksthümlichen spricht, ahnt und weiß nicht, daß in der vollendeten Kunst Gehalt und Gestalt unbedingt eins sind."
Aus diesen Stellen deS dithyrambischen Encomismus, in welchem Hettner den „gottbegnadeten Jüngling" feiert, läßt sich ungefähr die Theorie, die er sich von Goethe gemacht, abstrahiren. Aber es wäre höchst ungerecht, wenn man annehmen wollte, daß sich Hettner dieser Ansicht wie zweier Scheuleder bedienen wollte, die ihn verhindern, seinen Helden auch von anderen Seiten zu betrachten. Gleich hinter der ersten der angeführten Stellen wird doch zugegeben, daß Goethe trotz der größeren Tiefe und Weite des geistigen Gehaltes und der überragenden Hoheit und Reinheit seines Seelenlebens doch Shakespeare nicht an poetischer Schöpferkraft gleichkomme; daß also die Ausbildung des „Menschheitsideals" auf dem isolirten Gebiete des ästhetisch Schönen — (denn eine Ausbildung dieses Ideals auf den anderen Gebieten menschlicher Geistesthätigkeit wird selbst der überschwänglichste Bewunderer Goethe's diesem nicht vindiciren) — selbst nicht einmal zur höchsten Potenz auf diesem Gebiete sühre, ein Ziel das nur durch die harmonische Ausbildung des ganzen Menschen, nicht nur als eines ästhetischen, sondern auch als eines intellektuellen und noch mehr als eines sittlichen Wesens, dem die Gebiete des Staates und der Religion nie fremd werden dürfen, zu erreichen ist. Ja, dieses wird indirect von Hettner selbst zugestanden, indem er nach dem Satze von der Wiedereroberung des Begriffs des reinen und freien Menschenthums, des hehren Ideals vollendeter Humanität durch Göthe und Schiller, diese Eroberung gewissermaßen wieder in Zweifel stellt, indem er sagt: „Aber das Verhängnißvolle war. daß mit dieser fortschreitenden inneren Bildung die äußere Gestaltung der Dinge nicht Schritt hält." „Was naturnothwendig sich in innigster Einheit und Wechselwirkung durchdringen und bedingen, was einander heben und tragen soll, Theorie und Praxis, die Idee reiner und schöner Menschlichkeit und das staatliche und gesellschaftliche Dasein derselben, stand sich fremd gegenüber, war durch eine jähe unüberbrückbare Kluft getrennt." Der durch Göthe und Schiller wiedereroberte Begriff des reinen und freien Menschenthums scheint demnach nur ein abstracter, höchstens auf dem Gebiet des Schönen zu wirklichem Leben gekommener gewesen, mit nichten aber eine Verwirklichung der Idee reinen und schönen Menschenthums gewesen zu sein. „Die gesammte Entwickelung unserer großen Literaturepoche ist durch diesen Widerspruch des neugewonnenen Menschheitsideals und der widerstrebenden Wirklichkeit bedingt," sagt darum Hettner, seine frühere enthusiastische Charakteristik unserer sogen, klassischen Literaturepoche bedeutend damit limitirend, am Schlüsse der betreffenden Ausführung; ebenso wie er dem Satze, in welchem er die künstlerische Wiedergeburt hellenischer Art und Kunst durch Göthe als eine moderne Renaissance feiert, den sehr restringirenden Schluß folgen läßt: „Aber fühlbar macht es sich doch, daß diese hohe Idealität unserer größten Geister nicht, wie es naturgemäß sein soll,