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Aus Schwaben.
13. November.
Auf den 6. December sind die Wahlen zu der neuen würtembergischen Kammer ausgeschrieben, welcher die zu erwartende Vereinbarung von Versailles zur Genehmigung vorgelegt werden wird. Ausdrücklich zu diesem Zweck sind die Neuwahlen angeordnet worden. Aus der Tiefe des allgemeinen Stimmrechts soll die Zustimmung zu dem künftigen Bundesverhältniß geschöpft werden. So gestalten sich die Wahlen zu einem untrüglichen Gradmesser, wie das würtembergische Volk sich heute zu der Frage der deutschen Einheit stellt. Allbekannt und unvergessen ist, wie es sich bis zum Juli d. I. zu dieser Frage stellte. Welchen Eindruck hat der nationale Krieg mit seinen Opfern, seinen Erfolgen und seinen Zielen auf die Bevölkerung des Schwabenlandes gemacht, ist der alte Trotz durch die rühmliche Waffengemeinschaft aufgeweicht, sind langgenährte Vorurtheile und Befürchtungen vor den klaren Thatsachen gewichen, hat sich der Haß in Liebe gewandelt? — Darauf sollen die Wahlen des S. December Antwort geben.
Leichter als irgendwo scheint es in Schwaben den Puls der öffentlichen Meinung zu fühlen und ein ganz bestimmtes Urtheil über die vorherrschende Stimmung des Landes zu gewinnen. Denn der Schwabe ist gewöhnt, den Gang der Ereignisse mit häusigen Meinungsäußerungen zu begleiten, in welchen er sich mit sich selbst und mit den Ereignissen auseinandersetzt. Was er glücklich in sich verarbeitet hat, davon gibt er alsbald Kunde, die Welt soll nicht im Zweifel gelassen werden, wie die Geister am Nesenbach von den Begebnissen des Tages berührt sind. Schon in gewöhnlichen Zeiten vergeht kein Jahr, ohne daß mehrfach die eine wie die andere Partei theils in ihren Führern, theils in größerer Masse sich zusammenthut, um ein erneutes Bekenntniß ihrer politischen Gesinnung abzulegen, oder das bisherige an den Thatsachen zu messen, wofern nicht das Andere und Häufigere geschieht, daß nämlich die Thatsachen vielmehr nach dem Bekenntniß gemessen werden. Die Zwischenzeit aber verstreicht nicht, ohne daß einzelne Gau- oder Bezirksversammlungen zur Stärkung der Gleichgesinnten dienen und dafür sorgen, daß die Schlagwörter der Partei nicht in Vergessenheit gerathen. Sind die Zeiten bewegter, so wird der Beschluß gefaßt, die sogenannte Landesagitation zu veranstalten, wozu die Mittel stets vorrcithtg auf Lager liegen. In der Hauptstadt wird dann eine Parole ertheilt, ein bündiges Formular wird in die Provinz hinaus verbreitet, überall werden Versammlungen gehalten, die nach Anhörung einiger mehr oder weniger beliebter Redner besagtes Formular gleichfalls einstimmig adoptiren-