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Berliner Briefe. VI.
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Mensch mehr. Auf die Masse des Volks dagegen machte gerade Napoleons Schicksal den tiefsten Eindruck. Er galt ihr mit Recht als der Hauptver­brecher gegen die Majestät des Friedens, die poetische Gerechtigkeit, möchte man sagen, schien ihr nun erfüllt, sie erging sich in den abenteuerlichsten Entwürfen für seine Bestrafung, sie fürchtete ordentlich die bekannte Milde des Königs und konnte sich in der That nicht in den Gedanken hineinfin­den, daß ihm mit der Verbannung auf Wilhelmshöhe sein Recht geschehe. Daß die wahre Heimsuchung für seine Unthaten eine innerliche sei, wollte ihr nicht zu Sinne. Ueber die traurige Werthlosigkeir des gekrönten Beute­stücks gingen dem Volke erst nach der Pariser Umwälzung'die Augen auf; von da an begannen auch diese Kreise mehr der Bedeutung der großen Ca- pitulation ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden; auch über die Wirkung auf Metz hörte man sie nun ihre Vermuthungen äußern, wobei denn endlich auch die tapferen Thaten der Ostpreußen gegen Bazaine's Ausfall, die man fast über­sehen, zu gerechter Würdigung gelangten. Von den Schlachten um Sedan aber gefiel am meisten, daß sie weniger blutig gewesen, als die früheren.

Die Betrachtungen unserer Politiker nun machten so ziemlich den um­gekehrten Weg. Von Napoleons Geschick hatten sie nur mit wohlverdienter persönlicher Schadenfreude Notiz genommen; sie ergötzten sich so gut wie die Menge weidlich an den mancherlei witzigen Carricaturen, die den in jeder Hinsicht unritterlichen Feind mit gebührendem Hohn halb spaßhaft, halb ernst Übergossen. Da kam der jähe Umschwung in Paris, den man nicht erwartet hatte, weil man ihn nicht wünschen konnte. Man hatte auf MißHelligkeiten zwischen Trochu und Palikao gezählt, die uns zu statten gekommen wären, man hatte aber der Linken weder die Unvernunft noch den Muth zugetraut, sich im brennenden Hause wohnlich einzurichten. Die Geschäftswelt, die sich den Tag vorher voreilig in Friedensträumen verloren hatte, ward unfreund­lich daraus geweckt, mancher fiel nun wieder ängstlich ins andere Erstrem. Am Ende hat sich denn eine Art Gleichgewicht in den Aussichten hergestellt. Man läßt sich durch die Phrase1792" nicht täuschen; man steht den un- organisirten, tumultuarischen Widerstand des Feindes zwar wachsen, den or- ganisirten dagegen hält man für wesentlich geschwächt; man erblickt den Krieg nicht eigentlich verlängert, aber leider doch den wirklichen Frieden hinaus­geschoben; langwierige Besetzung von Provinzen, die wir doch nie behalten wollen und können, das ist das schlimmste, was wir vor Augen haben. An­dererseits glaubt man jedoch auch segensreiche Folgen für uns zu entdecken. Vor Allem darin, daß den einmischungssüchtigen Neutralen auf die Finger geklopft ist. Das ist, was wir für unsere eigene Lage aus den Pariser Er­eignissen bisher zu entnehmen versuchen; ihre sonstige Bedeutung ist uns daneben für jetzt von geringem Belange. Nur haben wir für die Franzosen selbst in ihrem Irrsinn doch noch einen Rest von Bedauern übrig und wer­den uns andererseits freuen, wenn die Weitsichtigen Recht behalten sollten, die schon Garibaldi oder Victor Emanuel selbst aus Rom marschiren und den Papst seinem allerchristlichsten Beschützer ins Exil nachpilgern sehen.

a./D.

«Verantwortlicher Redacteur: Gnstali Freytag. Verlag von F. L. Herbig. Druck von Hiithel » Legier in Leipzig.