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Hunderts. Die Parallele, die sich nicht blos auf die Materien, son. dern auch auf die Mittel des Kampfs, bis auf den Stil und die Waffe des Witzes hinaus erstreckt, drängt sich in jedem Augenblicke auf, und sie wird gleichzeitig immer wieder abgelenkt. Denn es ist zwar eine natürliche Sympathie, die der deutsche Verfasser für seinen Gegenstand empfindet, aber er steht ihm zugleich in vollster Freiheit gegenüber. Sparsam mit dem Urtheil, läßt er die Thatsachen selber reden. Nicht ein Gericht, so wenig wie eine Lobrede will erhalten, sondern erzählen. „Lobrede wie Apologie", sagt er, „sind die ungeeignetsten Wege, dem Wesen eines Menschen auf den Grund zu kommen und seinen Werth zu bestimmen. Der einzig rechte Weg dazu ist der, Lob und Tadel vorerst ganz aus dem Spiel zu lassen, dagegen dem Lebens- und Entwickelungsgange desjenigen, den man sich zur Betrachtung und Darstellung ausersehen hat, Schritt für Schritt nachzugehen, sein Werden aus und in seiner Zeit wie sein Wirken auf dieselbe zu beobachten, seine Werke, wenn es ein Schriftsteller ist, zu studiren, aus den Handlungen seine Triebfedern und Gesinnungen, aus den Schriften seine Fähigkeiten und Ansichten zu ermitteln, im Lichte den Schatten, aber auch im Schatten das Licht aufzusuchen, und so zuletzt ein Gesammtbild vor sich und Andern aufzustellen, dessen Ergebniß man um so weniger versucht sein wird, in einem kurzen Schlagwort auszusprechen, je sorgfältiger die Beobachtung war und je bedeutender der Mann ist, dem sie gegolten hat."
Wenn man in Voltaire gemeinhin das große Talent und den kleinen Charakter unterscheidet, so zeigt Strauß, daß auch mit diesem allgemeinen Urtheil nicht volle Gerechtigkeit geübt wird. Denn auch das Talent hat seine Schwächen, und auch dem Charakter fehlt es nicht an edlen und liebenswürdigen Seiten. Eine sorgfältig ordnende Hand gehörte dazu, um Licht und Schatten billig zu vertheilen. Wir lernen den Mann kennen mit all seinen Fehlern und Tugenden, mit all den widersprechenden Zügen, die nur die oberflächliche Betrachtung mit einem einfachen Prädicat abzufertigen vermag. Von den vielen unschönen Eigenschaften, die uns an der Person Voltaire's aufstoßen, wird ihm nichts geschenkt, der Geiz und die Bosheit, die Eitelkeit und die Rachsucht sind nicht verschwiegen. Doch der gleich- müthige leidenschaftslose Vortrag verbreitet ein milderndes Licht auch über die Fehler; es sind ja vergangene Dinge, die uns nichts mehr angehen, während das Große, das Voltaire geleistet, bleibenden Werth besitzt. Und so ist der Gesammteindruck, den wir von dem Spötter von Ferney erhalten, schließlich allerdings günstiger, als der allgemein geläufige, günstiger als er z. B. noch bei Hettner erscheint; aber nicht, weil Strauß gegen die Schwächen seines Helden nachsichtiger wäre, sondern weil er den endlichen Theil des bedeutenden Geistes mit überlegener Ironie zu behandeln weiß. Das Treffliche