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gegeben, sondern vorwärts zu dringen und immer neue Thüren zu eröffnen. Nicht der Besitz der Wahrheit ist ihr Ruhm, sondern das Suchen der Wahr- heit, und was Lessing von sich selber sagte, ist zugleich die Ueberschrift für die besten Tendenzen seines Jahrhunderts.
Schon vor Jahren hat Strauß nachdrücklich den Anwalt des achtzehnten Jahrhunderts gemacht. Als er seine Schrift über Reimarus herausgab, schrieb er im Eingang: „Das neunzehnte Jahrhundert hat eine reiche Erbschaft angetreten; aber selten ist auch ein reicher Erbe gegen den Erblasser undank- barer gewesen. Beinahe bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hinein war die Geringschätzung des vorigen guter Ton. Kaum glaubte einer Geist zu haben, wenn er nicht die sogenannte Aufklärung geistlos fand, und die Tiefe des eigenen Denkens wurde oft nur durch den Spott über die Richtigkeit des Rationalismus beurkundet. Das achtzehnte Jahrhundert war seicht, weil es klar war; weil es viel Verstand hatte, schien es wenig Geist zu haben. Einseitig war das achtzehnte Jahrhundert, das ist gewiß; aber kräftige Ein- seitigkeit ist allemal der Charakter geschichtlicher Fortschrittsperioden, während satte Vielseitigkeit die Zeiten des Stillstands bedeutet. Das achtzehnte Jahrhundert war unhistorisch, es verstand eigentlich nur sich selbst; um so klarer wußte es aber auch, was es wollte und sollte."
Das erste Wort einer geschichtlichen Würdigung der Ausklärungszeit verdanken wir im Gründe Hegel, der mit seiner ersten Bildung selbst in ihr wurzelt, und es ist doch nicht zufällig, daß in neuerer Zeit grad« aus seiner Schule eine Anzahl bedeutender Schriften über die Literatur des 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Das Hegel'sche System gehört freilich der späteren Zeit an. die sich so vornehm erhaben über die nächstvorangegangene wußte. Es ist der philosophische Ausdruck einer Bildung, die unsre klassische wie unsre romantische Literatur zu ihrer Voraussetzung hat. Allein wer die Geschichte als den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit definirte, durfte die Dienste, die jenes Jahrhundert dem Fortschritt des Menschengeists geleistet hat, nicht verkennen; und die Methode ausgleichender Gerechtigkeit für alle rückwärts liegenden Momente der Geschichte hat auch der Periode der Aufklärung ihr Recht widerfahren lassen müssen. Insofern ist unser heutiger Gesichtskreis ohne Frage weiter und freier. Vornehmlich in der Schule Hegels ist der geschichtliche Sinn gebildet worden, dessen wir uns rühmen dürfen. Jede vergangene Richtung ist uns der vernünftige Theil eines vernünftigen Ganzen; sie hat nie die ganze Wahrheit, aber Wahrheit ist auch in ihr. Und von den einzelnen Personen gilt dies nicht minder als von ganzen Zeiten. Nicht von unserem, d. h. von einem fremden Standort, sondern aus ihren eigenen Bedingungen soll jede geschichtliche Erscheinung begriffen werden. Das ist der Stolz und vielleicht die Schranke unserer Heu-