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Das Leben Schleiermacher's von Dilthey.
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sprach. Sie sind das geerbte Saatkorn, mit dem wir die ungeheuren Terri­torien der Gegenwart zu bestellen haben. Und so wendet sich die heutige Geschichtsschreibung mit aller Energie den Tagen zu/ die, freilich abgethan hinter uns liegend, nun bei all ihrer Schwäche, Beschränktheit und Macht­losigkeit den Schimmer eines Heroenalters zu tragen beginnen. Noch vor zwanzig Jahren klagten wir diese Männer an, die Erbschaft der Freiheits­kriege übel verwaltet zu haben: heute verstummen solche Vorwürfe. Deutsch­land ist in seinen Anfängen auf dem besten Wege. Wir haben nicht mehr zu trauern über vergebliches Ringen nach einem Ziele, das offen zu nennen früher polizeilicher Hochverrath war. Wir besitzen so viel Freiheiten, daß wir oft Mühe haben, uns selber darin zurecht zu finden: wir werfen Niemandem mehr vor, daß durch seine Schuld uns deren Genuß eine Reihe von Jahren zu spät zu Theil geworden sei. Wir fragen dagegen mit erwachender Neu­gier: wie waren die Männer denn beschaffen, aus deren geistiger Arbeit unser heutiger Zustand erwachsen ist? Und nun, indem wir ganz objectiv diese Frage stellen, entfaltet sich die Zeit der letzten 2S Jahre des 18ten und der ersten 23 des jetzigen Jahrhunderts als das bewundrungswürdige Zusam­menwirken einer großen, in ihren Interessen verbundenen Gesellschaft, welche, ganz Europa überspinnend, mit all ihren Intentionen aus geistige Arbeit ge­richtet ist. Gerade die Abwesenheit des politischen Lebens im heutigen Sinne gibt diesen Bestrebungen für unseren Anblick das Allmächtige. Man kannte nichts als das. Nur dieser einzige Weg schien eröffnet, um den Fort­schritt der Menschheit zu bewirken. Nach dieser einzigen Richtung hin schärfte sich alle Auffassung, alle Productionskraft.

Aus dieser Anschauung heraus ist Dilthey's Buch über Schletermacher geschrieben worden. Der vorliegende erste Theil führt uns nicht weirer als bis zum Jahre 1802. Er behandelt die Anregung in den gebildeten Kreisen Norddeutschlands vor und während der französischen Revolution. Dilthey bespricht Personen und Verhältnisse, die schon oft behandelt worden find und zu deren Beurtheilung so viel Material vorliegt (welches durch neue Publi­cationen fortwährende Bereicherung erfährt), daß sich fast bet Jedermann, dessen Interesse auf Betrachtung dieser Epoche gerichtet war, eine Art Con- struction der Dinge und Menschen von vornherein gebildet haben muß. Keine Natur aber unter den bedeutenderen, die uns hier begegnen, besaß in höherem Grade die Fähigkeit, überhaupt den Menschen und den Dingen sich hinzugeben, als die Schleiermacher's. Und deshalb ist es für uns heute so wichtig auch denen, die vielleicht nicht einmal Schleiermacher's wegen Dilthey's Buch lesen würden in Schleiermacher's Entwicklung ein treues Abbild der Strömungen seiner Epoche wahrzunehmen, die er zu so großem Theile in sich aufnahm und aus sich wirken ließ.

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