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Das Leben Schleiermacher's von Dilthey.
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die dunkle Scheu, mit der man neue Bewegungen der Nationen herannahen fühlte, so ganz anders beschaffen war als die Erwartung der 70 er und 80 er Jahre auf einen unaussprechlichen Völkerfrühling. Alles das sind jetzt vollendete Thatsachen, unbedeutende Symptome, particulare Handarbeit gegenüber der universellen Dampfarbeit der neuesten TagK

Es ist auffallend, wie sehr vom Standpunkte des heutigen Lebens aus angesehen die Zeiten der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege nun friedlich erscheinen. Man glaubte während dieses umgestaltenden Ueberganges aus dem vorigen Jahrhundert in das heutige praktische Politik zu treiben: heute sehen wir, daß all diese Politik doch nur von als Soldaten. Revolutionären, Staatsmännern zc. verkleideten Humanisten gemacht wurde. Napoleon, der rohe, rücksichtslose Soldat, steht heute als durch und durch getränkt von classischer Bildung da. Er holt Statuen und Gemälde nach Paris, führt Talma mit sich, der Corneille spielt, hat Werther's Leiden in seinem Handgepäck, schreibt aus Italien sentimentale Briefe an Josephine und läßt Goethe zu sich bescheiden. Und bei der Plünderung Weimars verschafft das Geschrei der Christiane Vulpius, an den ersten besten französischen Offizier gerichtet, ,uns Lauvegaräe xour 6oetdö I' diesem eine Schildwache vors Haus. Wir haben keine Goethe's heute, allein ich zweifle, ob französische Offiziere heute von ihnen wissen würden. Wir leben in den Tagen, wo Humboldt's Marmorbüste nach seinem Tode in Berlin vergeblich für einen billigen Preis ausgeboten wurde, und wo Nachts bei seinem Leichenbegängnisse der Pöbel seinen Sarg insultirte.

Das Durchdrungensein von einer Bildung, die von der Kenntniß des classischen Alterthums ausging und auf eine Umgestaltung der Welt in ihrem Sinne losarbeitete, ist das Kennzeichen der letzten großen Epoche hinter uns. Rousseau wußte nichts Besseres, als am Schlüsse des Emil seine ideale Ge- sellschaft in griechische Tempel mit ewigem Frühling einzulogiren, wo jeder und trank und keiner kochte. Nur die Gebildeten kamen in Betracht. Ein unsichtbares, williges Sclavenvolk that ungefragt die niedere Arbeit hinter der Scene. Die Gebildeten allein sind es, die in der französischen Revolution und in den Kriegen darauf die Macht in Händen haben, nur in Momenten lassen sie das aufgehetzte Volk los. Niemand ahnte unsere heutige Aufgabe: colossale Massen materiell emporgestiegener, aber fast ganz bildungsloser Menschheit, in deren Händen und Stimmen die allgemeine Ge­walt liegt, Mit den Resten jener schwindenden humanistischen Bildung zu er­ziehen. Niemand würde vor 30 Jahren nur diese Aufgabe begriffen haben, weil Niemand die Entwickelung des materiellen Lebens voraussah.

Was nun steht uns heute zu Gebote dieser Aufgabe gegenüber? Keine anderen Mittel doch, als die Gedanken der Epoche, von der ich eben