Der Verfassungsstreit in Oestreich.
In den letzten Wochen wurde ich wiederholt in politischen Flugschriften und Zeitungen auf meine vor zwanzig Jahren herausgegebene Brochüre: „Oestreich nach der Revolution" angesprochen. Auf Grund der darin niedergelegten Bekenntnisse ruft man mein Zeugniß für die Vortrefflichkeit der Föderativverfassung in Oestreich an und läßt mich in dieser die einzige Rettung des versassungsgeplagten Kaiserstaats erblicken. Auf der anderen Seite weist man auf den grimmigen Haß hin, dem ich bei den Hauptträgern der Föderation, bei den Czechen, verfallen bin, um darzuthun, daß auch unter Anhängern derselben Lehre keine Einigkeit herrsche, der Frieden also durch die Bekehrung zu föderativen Ideen nicht gesichert werde. So sehe ich mich ganz unerwartet in den Streit der Parteien hineingezogen und bin dadurch veranlaßt, über meine Auffassung der gegenwärtigen Verfassungsfrage Oestreichs Rede zu stehen. Nicht als ob ich meiner persönlichen Ansicht irgend welches Gewicht beilegte; wohl aber bin ich zu der Annahme berechtigt, daß meine Ueberzeugung von vielen Freunden in Oestreich getheilt wird, und daß ich auch in ihrem Namen sprechen darf.
Zunächst erkläre ich unumwunden, daß ich von dem Inhalte meiner Brochüre kein Wort zurücknehme, von der Richtigkeit der daselbst aufgestellten Grundsätze auch jetzt durchdrungen bin und den festen Glauben hege: Hätte die östreichische Regierung im Jahre 1849 die Föderativverfassung angenommen oder nur ihrer Einführung nicht gewaltsam den Riegel vorgeschoben, so würden dem Staate viele Kämpfe und Nöthen erspart worden sein, seine jüngste Vergangenheit wäre nicht Unehre und Niederlage gewesen, seine Gegenwart kein Experiment, seine Zukunft kein Räthsel. Ich kann mich aber ebensowenig der Einsicht verschließen, daß die Ereignisse der letzten zwanzig Jahre die ganze Sachlage verändert, daß sie insbesondere die Föderativverfassung in Oestreich unmöglich gemacht haben. Wer unmittelbar nach der achtundvierziger Revolution für die Föderation eintrat, rechnete mit wirklichen, greifbaren Factoren; wer sie noch in dieser Stunde empfiehlt, denkt Greuzbotm I. 1870. 66