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Der preußische Staat und Ernst Moritz Arndt : vorgetragen als Festrede am Krönungstage, dem 18. Januar 1870, in der öffentlichen Versammlung der deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen.
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und dieses plötzlichen Stillstandes traf die Nation in einer neuen politischen Gliederung. Nur an wenigen Stellen waren die Factoren politischen Lebens in derselben Verbindung geblieben, in der sie sich seit Jahrhunderten ausge­bildet hatten, wie z. B. in Alt-Würtemberg. Fast überall sonst traten solche, die seit Jahrhunderten ein gesondertes Dasein geführt, in neue Verhältnisse, unter die Wirkung neuer Einflüsse, die Kräfte einer zum Theil Jahrhunderte hindurch festgebannten Aristokratie, eines politisch fast versteinerten Bürger- thums begannen allmälig in noch unklaren Kämpfen, zum Theil nach den Vorstellungen und im Stil fremder oder rein abstracter Theorien, ihre Kräfte zu messen. Nach einer militärischen Erhebung ohne Gleichen fand sich die Nation, ohne es zu fühlen, auf den untersten Stufen einer schweren politischen Bildungsperiode.

Es ist hier nicht der Ort, näher in die Geschichte der folgenden Jahr­zehnte einzugehen. Was Preußen betrifft, so hat die neuere historische For­schung zum Theil nachgewiesen, daß seine Regierung unter der furchtbaren Ungunst der Verhältnisse mit Umsicht und Ausdauer das Gute zu erringen und unseligen Einflüssen entgegenzutreten suchte. Man erzählt sich heute das Wort unseres größten Staatsmannes,Preußen könne bei einer wirklichen urkundlichen Geschichte dieser Zeit nur in der öffentlichen Meinung gewin­nen." Die öffentliche Meinung freilich hat sich seit einem halben Jahrhun­dert gewöhnt, vor Allen Preußen für die Mißgriffe und Gewaltthaten ver­antwortlich zu machen, welche in den nächsten Jahrzehnten nach 1815 unser so junges politisches Leben noch mehr verwirrten und vergifteten.

Es ist bekannt, daß Arndt von diesen Maßregeln selbst in einer Weise getroffen wird, die bei einem so entschiedenen und begeisterten Vorkämpfer preußischer Politik in desto grellerem Lichte erscheinen mußte.

Die zweite Hälfte seines Lebens war reich an schweren Erfahrungen.

In die langjährige Suspension seiner aeademischen Thätigkeit fiel der Tod seines Lieblingsohns, der im Rhein ertrank. Man sah den Vater am Ufer knien und mit erhobenen Händen um die Rettung seines Kindes beten. Er hat den Schmerz dieses Schlags nie überwunden. Dann hat er ja ein­sam auf der Coblenzer Straße der Leiche seines großen Freiherrn v. Stein das Geleit gegeben, mit dem er in diesen Jahren sich über Deutschlands so wunderbare und so trostlose Geschicke aussprechen konnte wie mit keinem an­deren. Die Erschütterung des Jahres 1848 führte ihn mitten in die Be­wegung und die Verhandlungen des Frankfurter Parlaments. Unter der lauten Mißbilligung der Linken und der Tribune gab er seine Stimme für den Ausschluß Oestreichs ab und ging als Mitglied der Kaiserdeputation nach Berlin, um von dort, um eine neue große Enttäuschung reicher, heim­zukehren.