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neueren politischen Literatur nicht so leicht begegnet sind. Aus jedem Satz, ja auS jeder Zeile tritt uns das Bild des ganzen Mannes entgegen, eines Mannes, der von der. edelsten und männlichsten aller Leidenschaften, der Hingabe an die Sache seines Vaterlandes, nicht nur bewegt, sondern ergriffen ist. Es handelt sich natürlich nicht um die Widerlegung eines einzelnen Gegners, sondern um eine Abrechnung mit der Halbheit, Unwahrheit und Prinzipienlosigkeit des gesammten russischen Regierungssystems, das weder den Muth hat, den Verbindlichkeiten, die es übernommen, gegen den Willen Jungrußlands gerecht zu werden, noch die Entschlossenheit, einen offenen Rechtsbruch zu vollziehen. Die Sätze, in denen die Summe des gegenseitigen Soll und Habens gezogen wird, sind mit einer Gluth geschrieben, die sich dem Leser unwillkürlich mittheilt und ihm eine Vorstellung von der Erbitterung gibt, mit der im baltischen Norden der ungleiche Kampf zwischen einer kleinen Zahl zäher Kolonisten und der Regierung des ausgedehntesten europäischen Staates geführt wird. Das Buch macht den Eindruck, nicht nur Umständen ungewöhnlicher Art, sondern auch einem ganz ungewöhnlichen Talent entsprossen zu sein, einem Talent, das nicht nur auf außergewöhnliche geistige Begabung, sondern noch mehr auf eine Temperatur des Herzens zurückzuführen ist, wie man sie im hohen Norden am wenigsten vermuthen möchte.
UeberGoethes Tasso. Von A. F,C.Vilmar. Frankfurt a.M., Heyderu.Zimmer 1869.
Die fesselnden Gespräche zwischen Tasso und den beiden Leonoren in dem Garten von Belriguardo stört kein Mißton politischer uud religiöser Fragen; zwar kehrt Antonio, der Staatssecretär des Fürsten Alfons, mit einer Botschaft des Papstes von Rom»nach Ferrara zurück, aber der heilige Vater liebt den Frieden und verlangt weder Peterspfennige noch Schlüsselsoldaten. Auch findet sich in dem Schauspiele Goethes keine Andeutung, daß ein verwegener Staatsmann die günstige Gelegenheit abwartet, um die historischen Grundlagen der italienischen Monarchieen zu erschüttern. Ueberhaupt enthält die reizende Dichtung keine Zeile, welche ein treues Katten-Gemüth verwirren oder beängstigen könnte. — Somit war es Vilmar vergönnt, bei Besprechung dieses Schauspieles frei von gehässiger Einseitigkeit die erfreulichen Seiten seines Talentes zu entfalten und sich als anregenden, feinsinnigen Beurtheiler und trefflichen Stylisten zu erweisen.
Nach einigen unerquicklichen Bemerkungen über das Verhältniß Goethes zu seinem Stoffe bespricht Vilmar die Aufeinanderfolge der einzelnen Aufzüge in Tasso und findet, daß sich die Handlung ruhig und einfach, in unmerklichem Wachsthum entwickelt und daß sich im schönsten Ebenmaße künstlerischer Vollendung Scene an Scene schließt. Von den fünf Charakteren der Dichtung sagt er: „Wir wir in der aus mehreren farbigen Blättern bestehenden Blumenkrone voll stillen Sinnes die zarte Einstimmung von je zwei Blättern in Farbe, Schattirung und Stellung bewundern und wie wieder eine neue Harmonie anderer Art zwischen den beiden einander an Farbe und Stellung unähnlichen Paaren und nochmals zwischen dem ersten und dritten und dem zweiten und vierten einzelnen Blüthenblatt stattfindet und wie ein fünftes verschiedenes Blatt durch zarte Schatten, feine Fäden und zierliche Linien mit den beiden Paaren und mit jedem einzelnen Blatte derselben in wunderbarer Regelmäßigkeit, die zugleich