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Einzelne völlig wehrlos war, scheuten sich bald die besten Elemente, den Kampf mit der Geistlichkeit aufzunehmen und die Kirchenvorstände wurden in den meisten Orten mehr oder minder gefügige Werkzeuge orthodoxer Geistlichen.
Besonders traurige Folgen hatte die starre mehr auf den Buchstaben als auf den Geist sehende Ausführung des Gesetzes in Ostfriesland. Hier lebten von Alters her Lutheraner und Reformirte in bester Eintracht und in einer Art factischer Union; beide Confessionen räumten sich gegenseitig volles kirchliches Srimmrecht ein, während die Angehörigen beider auch die Ortskirchenlasten gemeinsam trugen. Die hannoversche Regierung erklärte auf Grund der neuen, ihrem Wortlaut nach allerdings nur für die lutherische Kirche berechneten Kirchenvorstandsordnung, daß hinfort kein Resormirter mehr actives oder passives Wahlrecht bei den Kirchenvorstandswahlen in den lutherischen Gemeinden in Anspruch nehmen könne. Vergebens protestirten einstimmig die Gemeinden, vergebens stellte das Auricher Consistorium die schweren Bedenken vor, welche ein solches Eingreifen in seit Jahrhunderten zur allgemeinen Befriedigung bestehende Zustände erwecken müsse, vergeblich nahm sich die Provinziallandschaft der Sache an — der starre Sinn der herrschenden Partei blieb für alle- Vorstellungen unzugänglich.
Bald zeiglen sich die Cons>>auenzen. In vielen gemischten Gemeinden wurde der bis dahin völlig schlafende confessionelle Gegensatz gewendet; die Reformirten, welchen das Wahlrecht zum Kirchenvorstande entzogen war, fingen an, auch die Zahlung der Beiträge zur lutherischen Ortskirche und Schule zu weigern. Streitigkeiten, Processe, gegenseitige Erbitterung waren die Folge. In anderen Gemeinden weigerten sich die Lutheraner zu wählen, so lange nicht die reformirten Gemeindegenossen zur Betheiligung an der Wahl zugelassen seien, namentlich geschah dies in den Kirchspielen, die obwohl der lutherischen Confessivn angehörig, doch zum überwiegenden Theil von Reformirten bewohnt wurden. Es gab lutberische Gemeinden, in denen Dreiviertel der Gemeindeglieder sich zur reformirten Confession bekannten. Diese wurden nun plötzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen, und mehrfach fand sich unter der zurückbleibenden Zahl Lutheranern niemand, der zum Kirchen- vorsteheramt geeignet war. Die Wahl mußte daher unterbleiben, und selbst die Geistlichen beschwerten sich dann über die unkluge Maßregel, welche ihnen die intelligentesten und am meisten kirchlich gesinnten Gemeindeglieder von den kirchlichen Ehrenämtern ausichloß.— Das neue Gesetz bezog sich nur auf die Kirchenvorstands- und Synodalwahlen, berührte aber die wichtigen Predigerwahlen mit keiner Silbe. In Ostfriesland, wo seit Alters her freies Gemeindewahlrecht unter gegenseiliger Gleichberechtigung der evangelischen Confessionen geherrscht hatte, blieb in dieser Beziehung natürlich Alles beim