22
ralidee gegeben ist. Dies lehrt schon ein einfacher Blick auf das Selbsterhaltungsrecht des Staates. Dem einzelnen Menschen ist die Pflicht der Aufopferung für die höchsten sittlichen Zwecke vorgeschrieben, dem Staate niemals, weil seine Erhaltung die ideelle Grundlage der rechtlichen Existenz aller Staatsbürger ist. Nur der eine Fall ist ausgenommen, wenn ein Staat seine Auflösung beschließt, um sich in einen rechtlich und national homogenen Organismus höheren Ranges aufzulösen. Der Act der Auflösung eines kleineren Staatswesens zu Gunsten der nationalen Einheit kann in Wahrheit als Act der Selbsterhaltung im sittlichen Sinn gedacht werden. Sprechen wir aber, abgesehen hiervon, von der Selbsterhaltung des Staates im gewöhnlichen Wortsinn, so liegt die sittliche Nothwendigkeit derselben in seiner allgemeinen menschlichen Culturaufgabe, welche ohne Gliederung der Völker im Staatskörper nach unserem Bewußtsein nicht lösbar erscheint. Die letzten Gründe der staatlichen Moral liegen somit in den Ideen der Menschheit und der mit ihr innig zusammenhängenden Idee der Nationalität. Der Staat muß sich erhalten und aus dieser Aufgabe heraus empfangen auch die Mittel der staatlichen Selbsterhaltung ihren sittlichen Charakter. Dieser Zweck heiligt alle dazu nothwendigen und unerläßlichen Mittel, auch den Krieg und im Krieg die Lüge, welche die bürgerliche Moral verwirft. Wo immer wir an sittliche Vorstellungen in der Politik herantreten, ^finden wir, daß dieselben mit den Zweckbestimmungen des Staates auf das engste verbunden sind und nur in diesem Zusammenhang erfaßt werden können. Das Princip des modernen Staatsrechts, sein Grundgedanke ist die Verpflichtung, die Staatsgewalt im Sinne der Staatszwecke zu bethätigen.
Es ist auffallend genug, daß unter den namhaftesten Staatsrechtslehrern der Gegenwart über die anscheinend so einfache Frage nach der Bestimmung des Staates die abweichendsten Auffassungen gang und gäbe sind. Die aufgestellten Definitionen leiden außerdem darunter, daß sie ohne besondere Beziehung zu dem politischen Entwickelungsgang des gegenwärtigen Zeitalters entworfen sind. Dadurch erhalten sie eine Unbestimmtheit, die Gerber (Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts) sogar für unvermeidlich zu halten scheint, wenn er hervorhebt, daß eine theoretische Bestimmung des Staatszweckes sich immer nur in sehr allgemeinen Vorstellungen bewegen könne. Wäre dies zuzugeben, so würde es, wie Holtzendorff mit Recht bemerkt, besser sein den Versuch ganz fallen zu lassen. Für die Politik ist Bestimmtheit und Klarheit der Zweckvorstellungen ein unumgänglich nothwendiges Erforderniß.
Vor allen Dingen dürfte die Staatslehre sich vor eigenmächtigen Con- structionen zu hüten haben. Die realen Zwecke des staatlichen Lebens können nur aus dem Bewußtsein der Nationen selbst hergeleitet werden. Der